Doctor Boff - Weiberkranckheiten
tranken viel, das Destilliergerät arbeitete Tag und Nacht. Aber sie war sorgfältig angezogen und jetzt auch nüchtern. Es gab solche Menschen: Sie tranken unfassbare Mengen, aber sie gingen nicht in diesem Meer aus Schnaps und Wein unter. Mancher starb daran, mancher rülpste und schüttete den nächsten Becher in sich hinein.
Hermine trat auf den Plan, sie strich und drückte und herrschte die schreiende Frau an, sich nicht gehen zu lassen. »Wollt Ihr Theater machen oder gesund werden!?« Ohne Zweifel spürte die Frau starke Schmerzen, und obwohl diese Schmerzen ausstrahlten und ein exakter Punkt nicht bestimmt werden konnte, kreiste man gemeinsam den Herd ein. Etwas saß oberhalb der Leber, mehr zur Körpermitte hin. Die Leber war es nicht, sie war nicht vergrößert und nicht hart. Die Verdauung war angeblich regelmäßig und reichlich. Fünfmal musste Boff die Frau bitten, nicht ständig von den Gerüchen ihres Kots zu sprechen, was sie mit grimmiger Freude tat. Mit Müh und Not gelang es, sie davon abzuhalten, Witze zu erzählen, in denen es um Gestank und Fürze ging. Ein letzter Witz wurde ihr gestattet, dann schob Boff den Riegel vor. Er bedauerte so sehr, dass er der Frau nicht unter die Haut schauen konnte. Ein Schnittmit dem Messer, und man wäre schlauer gewesen. Rohwedder war der Mann, um solche Spiele zu spielen. Aber es gab mannigfache Gefahren. Die Narkose, das Bluten, die Vergiftung, und falls ein Geschwür unter der Haut saß, konnte es verletzt werden und seine tödliche Saat in den Bauchraum ausstreuen. Boff war auf solche Eingriffe nicht vorbereitet. Er konnte die Frau mit den Mitteln behandeln, die ihm zu Gebote standen. Andere ärztliche Disziplinen konnten es nach ihrer Art tun, aber sie saßen nicht nebenan, sondern in einem anderen Haus in einem anderen Viertel.
Die Zahl der Ärzte in Halle war beträchtlich, Zahnreißer, Chirurgen, Barbiere gab es an jeder zweiten Ecke – aber nicht da, wo sie viele Patienten brauchten: gleichzeitig und auf engstem Raum. Viele Patienten konnten nicht gehen, und falls man ihnen beim Gehen half oder sie liegend trug, stellte das bei manchen Krankheiten keine Gefahr dar, bei anderen sehr wohl. Manchmal waren Patienten dermaßen geschwächt, dass ein Transport von zehn Minuten sie ins Jenseits beförderte. Man nahm das hin, weil es immer so gewesen war. Aber musste es deshalb auch immer so bleiben?
Die nächste Patientin vertiefte die Nachdenklichkeit des Doctors weiter. Es handelte sich um ein Mädchen von neun oder zehn Jahren. Die Mutter, aufgeregt und fahrig, widersprach sich mehrmals. Die Milchzähne waren fast alle noch vorhanden, da, wo beim Raubtiergebiss die Reißzähne sitzen, wuchs ein neuer Zahn in zweiter Reihe. Das Mädchen hatte Schmerzen, konnte nicht richtig zubeißen und kauen, vermied seit einigen Wochen die rechte Zahnreihe, was dazu geführt hatte, dass alles kreuz und quer zu wachsen begann. Selbst das Zahnschmerz-Engelchen, das die Mutter gegen den Busen drückte und ständig streichelte, um ihrem Kind die Pein zu nehmen, hatte die Grenzen seiner Macht erreicht. Sie hing dem Glauben an, dass kleine Würmer für die Zahnschmerzen verantwortlich waren. Sie lebten im Mund und kamen nachts aus ihren Verstecken. Boff hielt das für Unsinn, aber die Sorge der Mutter war echt und die Lage der Tochter verzweifelt. So richtig es war, den Aberglauben zu geißeln, so sicher war, dass es Momente gab, wo der Wissende den Mund halten musste, weil sein Wissen nicht wichtiger war als das Leid der Menschen.
»Warum geht Ihr nicht zum Zahnreißer?«
In der Familie war ein Onkel von einem Zahnreißer zu Tode traktiert worden.
»Was sagt der Heiler in Eurem Dorf?«
Die Heilerin hatte dem Mädchen ein Beutelchen an die Wange gebunden, das einen Brei aus eigenem Kot und Kamille enthielt. Ein durchreisender Marktschreier hatte empfohlen, dem Mädchen alle Zähne zu ziehen und ihr ein Gebiss anzupassen. Angeblich hatte dieser Mann seine Modelle an alten Menschen ausprobiert. Das hatte sie ihre letzten Beißer gekostet und ihnen Schmerzen bis zu ihrem letzten Tag eingebracht.
»Könnt Ihr uns nicht den Zahn ziehen?«, fragte die Mutter mit leiser Stimme. »Ihr sollt eine ruhige Hand haben, und mehr braucht man doch nicht dafür.«
Vier wartende Patientinnen schickte Stine wieder nach Hause, damit der Doctor Gelegenheit erhielt, zwei Briefe zu schreiben. Mit Lewerkühn, dem Teufelsreiter, bestand die Abmachung, dass er abends die Depeschen abholte,
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