Doctor Boff - Weiberkranckheiten
nicht vergessen.«
»Ist es das?«, fragte Graf Argus. »Wollt Ihr das alte Wissen in Eurem Haus frisch und fruchtbar halten?«
»Es gibt einen Zahnreißer und einen Wundarzt. Den einen habe ich persönlich bei der Arbeit erlebt, von beiden habe ich Kenntnisse eingeholt. Sie gehören zu den Guten ihres Fachs. Ich will mit ihnen zusammenarbeiten. Nicht für den Rest meines Lebens, nur einige Zeit. Denn eins kommt noch dazu: Die Heiler arbeiten unter Bedingungen, unter denen die akademischen Ärzte in Verzweiflung und Tränen ausbrechen würden. Ich will herausfinden, wie es sich auswirkt, wenn man ihnen Bedingungen verschafft, wie wir sie gewohnt sind. Ändert sich etwas oder nicht? Und wenn sich etwas ändert: zum Guten oder zum Schlechten? Und zum Schluss noch dies: Ich will nicht ausschließen, dass ich einiges von den beiden lernen kann. Es gibt in der Medizin Felder, mit denen jeder Arzt, egal worauf er sich spezialisiert, befasst ist. Ich nenne den Umgang mit den Blutungen. Geht es anders und besser als ich es praktiziere? Für mich fängt im besten Fall meine zweite Ausbildung an. Vielleicht werde ich in vier Wochen die Bilanz ziehen: Aufhören, sofort aufhören! Aber ich werde das Experiment beginnen. Ich bitte Euch also um Langmut. Denn vergessen wir nicht: Alles, was wir tun, tun wir für die Patienten. Ich hebe mein Glas auf die Patienten: die von heute und die von morgen!«
35
Stine stellte den Patientinnen neben ihren üblichen eine neue Frage, machte Striche und teilte dem Doctor jeden Abend das Ergebnis mit. Jede dritte Patientin litt neben dem Übel, das sie zu Boff führte, auch unter Zahnschmerzen. Fast alle nahmen das Angebot an, wenige Stufen höher vom Zahnreißer empfangen zu werden. Im Treppenhaus entwickelte sich ein reger Verkehr, denn auch der Wundarzt saß nicht untätig herum. Boff schickte ihm alle dreißig Minuten eine neue Patientin. Er öffnete Venen, um durch den Aderlass die Blutfülle zu normalisieren; er setzte Blutegel, die er von einer Adresse seines Vertrauens bezog und abgöttisch zu lieben schien; blassen Patientinnen rückte er mit Hilfe von unblutigen Schröpfköpfen zu Leibe; auf gebrochene Knochen war er vorbereitet; lag ein Leistenbruch vor, und Boff hatte alle konservativen Behandlungsmethoden angewendet, musste der Wundarzt der Patientin nur noch Angst vor den ambulanten Bruchschneidern einjagen, um sie für sich zu gewinnen. Er stellte fest, dass Boff sein mächtigster Verbündeter war. Wen er schickte, war voller Vertrauen und würde nicht fliehen.
Der Wundarzt nahm Boff aufwendige Arbeit ab. Der Stadtphysicus gewann Zeit, um sich Patientinnen zu widmen, deren Wartezeit sich dadurch verkürzte. Stine teilte jeder Patientin ungefragt mit, wie viel Zeit sie sparte, weil der Doctor zum Wohl der Patienten eine neue Verteilung der medizinischen Aufgaben vorgenommen hatte. Boff wurde Ohrenzeuge von Stines Vortrag und untersagte ihr den predigthaften Ton. »Aber Ihr seid ein Zauberer«, behauptete Stine, »und die Leute halten Euch für einen Heiligen.«
»Ich bin kein Heiliger. Ich esse unregelmäßig, und manchmal trinke ich zu viel, ich furze und fluche und denke an Frauen, an die ich nicht denken sollte. Sag mir: Tut das ein Heiliger?«
Stine blickte sich um, rückte dicht an Boff heran und raunte in verschwörerischem Ton: »Von mir erfährt niemand etwas über Eure vielen Schwächen.«
»Ich habe nicht gesagt, dass es viele sind.«
»Ach nein? Ab wann sind es für Euch denn viele? Ab zwanzig?«
Zwei Wochen später hatte der Stadtphysicus einen Termin im Rathaus. Vor den Männern der Verwaltung zog er eine erste Bilanz der drei Praxen unter einem Dach. Er betonte so oft die bisher noch recht schmale Grundlage an Erfahrungen, bis es auch dem Gutmütigsten unter den Zuhörern zu viel wurde. »Übertreibt es nicht mit der Sachlichkeit!«, knurrte einer.
Boff fuhr alle Geschütze auf: kurze Wege, Rundum-Versorgung der Patienten, Austausch mit den Kollegen. Der Begriff »Kollege« verursachte einigen Zuhörern Bauchschmerzen. Boff entging das nicht, aber er wollte nicht mehr die Schlachten von gestern schlagen, sondern die Vorteile der neuen Zeiten vortragen. Insgeheim war er auf stärkeren Widerstand eingestellt, als er sich in der anschließenden Debatte zeigte. Doch obwohl deutliche Worte fielen, blieben verletzende Äußerungen aus. Die Mehrheit lehnte ab, was der Stadtphysicus installiert hatte. Aber man würde ihn gewähren lassen. Vielleicht warteten sie auf
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