Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Gräfin für einen Abend ihre Angst vergessen, vielleicht sah für sie die Welt morgen anders aus, nicht mehr so verhangen. Wenn sie am Ende des Fests drei Einladungen erhalten hatte, war alles gerechtfertigt.
»Und wenn die alte Vettel nur eine Einladung kriegt, haben wir uns trotzdem die Plautze vollgeschlagen«, murmelte Hermine.
Boff kannte das schon. Bei gesellschaftlichen Anlässen brauchte sie die erste Stunde, um die Angehörige des einfachen Volks herauszukehren, bevor sie sich vom Glanz verzaubern ließ. Im Alltag vernachlässigte Hermine ihre Ernährung. Sie aß nebenbei und behauptete, vor lauter Arbeit keine Zeit zu haben. Hätte Boff nicht auf sie geachtet, wäre sie an manchen Abenden hungrig ins Bett gegangen.
Der Besitz des Grafen Argus erstreckte sich über den Osten und Süden von Halle. Dementsprechend pflegte er mit seinen geschäftlichen Beziehungen enge Kontakte ins Böhmische und Sächsische. Boff hoffte, dass sich diese Tatsache bei den Gästen niederschlagen würde. Ihm war danach, einen Abend Urlaub von Halle zu nehmen.
Er schlenderte durch die Menge, sah zu, wie die Ankommenden begrüßt wurden, Küsse, Umarmungen, Schulterklopfen. Es war ein überschaubares Fest, nicht mehr als fünfzig Personen. Bewusste Beschränkung oder waren nicht mehr erschienen, obwohl fünfmal so viele Einladungen ausgesprochen worden waren? Familienverbände fuhren vor: Mann, Frau und ein Kind, das halbwüchsig und bisweilen schon erwachsen war.
Die Tafel war im größten Raum aufgebaut: bodenständig und elegant. Die Paare hatten neue Tischpartner erhalten, Boff saß neben Creszentia Cassian, deren Frisur zu wuchtig für den zierlichen Körper war. Sie sah aus, als könne sie durch das Gewicht der Frisur der Länge nach hinschlagen. Aber solange sie saß, war nichts zu befürchten. Auf der anderen Seite war Boff mit Janet von Priehn eingerahmt worden. Sie war die Frau eines bekannten Einfuhrhändlers, der Preußen mit Möbeln aus England versorgte. Janet hatte er importiert, nachdem seine erste Ehefrau ein halbes Jahr tot gewesen war. Sie sprach besser Deutsch als viele Einheimische und besaß das Talent, weitschweifig über Nichtigkeiten zu plaudern, um überfallweise geistreiche Anmerkungen einzustreuen, bevor es zu den Nichtigkeiten zurückging. Mit Janet als Tischpartnerin war man aufder sicheren Seite. Bei ihr musste Boff sich nicht mit seinem Trauma herumplagen, medizinische Themen zu vermeiden, um den Gesprächspartner nicht zu schockieren. Hermine hatte ihm wohl hundert Mal erklärt, wie süchtig die Menschen nach Krankheiten und Entstellungen waren. Man gruselte sich für sein Leben gern in Gesellschaft eines Arztes.
»Darf ich fragen, lieber Boff, wie Ihr zu der Narbe gekommen seid?«
»Fragen dürft Ihr.«
»Ich höre.«
»Vernehmt Ihr auch diese Stille?«
»Ist es so geheimnisvoll? Was kann schon passieren, bevor so eine Narbe zurückbleibt?«
»Na seht Ihr. Ihr kennt die Antwort schon. Was kann schon passieren? Ich kann beruhigt schweigen.«
So konnte man einer Janet von Priehn nicht kommen. Boff wusste das und lavierte nur, um Zeit zu gewinnen. Von den Lügen, die ihm für seine Narbe zur Verfügung standen, wählte er die mit dem Unfall aus. Ein Unfall war nicht so spektakulär wie Janet erhofft hatte, aber immerhin.
Drei Studenten der Medizin, nördliches Italien, eine Nacht mit viel Wein und morgens der Entschluss, beim Nachhauseweg in den Stall des Herrenhauses einzubrechen und sich die Pferde für ein Rennen auszuleihen. Bis zum Fluss und zurück. Alle konnten reiten, keiner besonders gut. Sie kannten den Weg bei gutem Wetter und Sonnenschein. In dieser Jahreszeit war es morgens neblig, die Wege weich, ein Pferd rutschte weg, sichelte das zweite Tier von den Beinen. Ein Reiter mit gebrochenem Bein, Boff mit Hufen auf dem Kopf und im Gesicht. Hufe, scharf wie Messer.
»My Goodness!« Janet war entzückt. Es sah aus, als wolle sie ihre kleine Faust in den Mund stecken. Boff erzählte nüchtern und detailreich. Diesem Mann musste man einfach glauben. Er wusste das und war nicht stolz darauf.
Die Speisenfolge stand unter dem Motto »Unser Wald«. Alles auf den Tellern war in den Argus-Besitzungen gewachsen oder durch sie hindurchgelaufen. Für die Herkunft der Gewürze bürgten zwei Kräuterfrauen aus dem Dorf. Zweifel waren nicht erlaubt. Bier und Wein waren manchem zu deftig, aber da musste man nun durch. Niemand trank freiwillig Wasser. Und mit dem neumodischen Tee sollten die
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