Doctor Boff - Weiberkranckheiten
wird der Brief als Flugblatt erscheinen. Ihr wisst, was ich damit sagen will: Praktisch ist der Brief bereits erschienen, man sollte seine Kräfte auf sinnvollere Ziele verwenden als darauf, Schlachten zu gewinnen, die man nicht gewinnen kann.«
36
In dieser Nacht gingen im Rathaus die Kerzen nicht aus. In den Räumen wurde getagt, zwischendurch gegessen und getrunken. Man vertrat sich die Beine, rauchte und verfluchte den Unseligen, der Boff zum Stadtphysicus gemacht hatte. Da es sich dabei jedoch um einen einstimmigen Beschluss gehandelt hatte, musste schweren Herzens darauf verzichtet werden, ein Bauernopfer auszugucken. Der Lebenslauf des Albrecht Boff wurde von allen Seiten beleuchtet. Viel war bekannt, was man zusätzlich herausfand, bestätigte den ersten Verdacht: Der Mann war ein redlicher Bürger. Nichts ließ sich finden, was geeignet gewesen wäre, ihn zu entfernen. Nicht einmal Jugendsünden schien er begangen zu haben. Zur Not hätte man sich mit einem eingeschlagenen Fenster oder dem Einbruch in einen Honigstock zufriedengegeben. Er hatte keine Frauen geschlagen und keine Kinder in den Staub getreten. Seine Eltern lebten nicht mehr, Verwandtschaft gab es nur viele Tagreisen entfernt. Frühere Kollegen von Boff priesen ihn, frühere Patienten erklärten jeden für bösartig, der etwas gegen seine ärztliche Kunst einwandte. Allerdings war Boff in seinem Leben viel gereist. Auf einer Karte Europas hatte man alle Orte, die bekannt waren, mit zierlichen Standarten markiert. Vom Baltischen Meer bis zum Mittelmeer, von der Nordsee bis hinter Königsberg hatte sich Boff aufgehalten, oft als Berater und Leibarzt von Adligen, Offizieren und Kaufleuten. Darunter befanden sich Namen, die die Entfernung des Mannes aus dem Amt enorm erschweren würden.
»Es muss sich doch was finden lassen«, knurrte ein gereizter Gegner. »Jeder Mann hat dunkle Flecken in seinem Leben. Wo ist die Hure, die über seine ekelhaften Perversionen berichtet? Wo die Nonne, die er geschwängert hat? Er muss ein Hausangesteckt oder eine Kapelle beraubt haben oder einen Ochsen gestohlen und geschlachtet. Das ist unvermeidlich, wenn man so viel unterwegs ist. Warum reist der Mann so viel? Niemand, der ein gutes Gewissen hat, tut das. Er flieht vor etwas.«
»Oder er sucht etwas«, sagte ein anderer.
»Oder er reist einfach gern«, sagte ein Dritter.
Sie blickten sich an und fühlten sich noch mutloser.
Spät in der Nacht fanden sie heraus, wem das Haus gehörte, in dem sich die schockierenden Verbrüderungen abspielten. Sein Name war Siegfried Adolf Gerhard Ichnicht. Mehrere der Anwesenden hielten das für einen Schreibfehler oder für mehrere Fehler auf einmal. Zur Adresse schickten sie sofort einen Rathausboten. Wenn lange getagt wurde, mussten stets zwei Bedienstete anwesend sein und in einer Kammer schlafen. Einer war für die Verpflegung zuständig, der andere für alles, was sich ergab.
Nach zwei Stunden kehrte der Bote zurück und sah nicht mehr so gesund aus wie beim Aufbruch. Die Adresse existierte nicht. Vier Hallesche Bürger hatte er aus dem Schlaf geklingelt, um sie zu befragen. Drei von ihnen waren sehr hässlich geworden, der vierte war blind und hatte ihn verfehlt, als er versuchte, den nächtlichen Störenfried zu schlagen. Dafür hatte der Bote ihm einen Schubser versetzt, was einer der hässlichen Nachbarn beobachtet hatte. Darauf waren sie gemeinsam über ihn hergefallen.
Fürs Erste ließ sich also nichts gegen Boff finden. Nun hatte man zwei Möglichkeiten: abwarten oder etwas gegen diejenigen unternehmen, gegen die sich leicht etwas finden ließ. So gerieten die Heiler ins Visier. Die beiden aus dem Haus ließ man einstweilen gewähren. Niemand wollte das Risiko eingehen, von Boff dabei erwischt zu werden, wie man den Zahnreißer blau und grün schlug oder – viel besser – seine Instrumente zerstörte.
Der Bürgermeister bat um Themenwechsel. Allen war aufgefallen, dass er heute schweigsamer war als sonst. Er hielt auch oft eine Hand an die linke Wange.
»Was tut Euch weh?«, fragte der Arzt Sattler.
»Was meint Ihr denn wohl?«, fauchte der Mann in der roten Jacke.
Die anwesenden Mediziner empfahlen ihm alles, was dämpfte und betäubte. »Bin ich ein Schaf, das Gras frisst?«, knurrte er. »Ich bin ein Mann, der sich der Herausforderung stellt.«
Nun schoss man sich auf die Heiler ein. Von Hoppe war die Rede, dem ruchlosen Mörder, der seine Tat nicht begangen hätte, wenn er nicht vor einem Jahr
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