Doctor Sleep (German Edition)
die Stones hierherzubegleiten, wenn sie eintreffen? Ich kann schon mal ohne Sie anfangen.«
»Sind Sie sich sicher, dass …«
»Ja«, sagte Dan und sah ihm unverblümt in die Augen. »Das bin ich.«
»Sie ist in Zimmer neun«, sagte die Oberschwester. »Das ist am Ende vom Flur. Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie einfach die Ruftaste dort.«
4
An der Tür von Zimmer 9 stand Concettas Name, aber das Fach für ärztliche Anweisungen war leer, und der oben angebrachte Monitor mit den Vitalfunktionen zeigte nichts Hoffnungsvolles. Dan trat in Gerüche, die er gut kannte: Lufterfrischer, Desinfektionsmittel und tödliche Erkrankung. Letzterer summte in seinem Kopf wie eine Geige, die nur eine Note spielen konnte. An den Wänden hingen Fotos, darunter viele von Abra in unterschiedlichem Alter. Auf einem sah man einen Haufen kleiner Kinder, die mit offenem Mund zuschauten, wie ein Magier ein weißes Kaninchen aus einem Hut zog. Das war bestimmt bei jener berühmten Geburtstagsparty aufgenommen worden, am Tag der Löffel.
Umgeben von diesen Bildern, schlief hier eine bis aufs Skelett abgemagerte Frau mit offenem Mund und einem zwischen die Finger geflochtenen Rosenkranz. Die ihr verbliebenen Haare waren so fein, dass sie auf dem Kissen fast nicht zu sehen waren. Ihre früher olivfarbene Haut war inzwischen gelb; die schmale Brust hob und senkte sich nur unmerklich. Ein Blick reichte Dan aus, um zu erkennen, dass die Oberschwester tatsächlich genau wusste, was Sache war. Wäre Azzie da gewesen, so hätte er bereits neben der Frau in diesem Zimmer gelegen und auf die Ankunft von Doctor Sleep gewartet. Damit er seine nächtliche Patrouille durch Flure wieder aufnehmen konnte, die bis auf nur für Katzen sichtbare Dinge leer waren.
Als Dan sich auf die Bettkante setzte, sah er, dass die einzige Infusion eine Salzlösung enthielt. Es gab nur eine Medizin, die dieser Frau noch helfen konnte, und die hatte die Krankenhausapotheke nicht auf Lager. Die Kanüle hatte sich verschoben. Dan brachte sie wieder in die richtige Position, dann nahm er ihre Hand und blickte in das schlafende Gesicht.
(Concetta)
In ihre Atmung kam ein leichtes Stocken.
(Concetta kommen Sie zurück)
Unter den dünnen, blutunterlaufenen Lidern bewegten sich die Augen. Vielleicht hatte sie gelauscht, vielleicht hatte sie auch ihre letzten Träume geträumt. Von Italien wahrscheinlich. Wie sie sich über den Brunnen ihres Elternhauses gebeugt hatte, um einen Eimer kühles Wasser hochzuziehen, die heiße Sommersonne auf dem Rücken.
(Kommen Sie zurück Abra braucht Sie und ich auch)
Das war alles, was er tun konnte, und er war sich nicht sicher, ob es ausreichen würde, bis sich tatsächlich langsam ihre Augen öffneten. Zuerst waren sie leer, dann gewannen sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung wieder. Das hatte Dan schon oft gesehen, dieses Wunder des zurückkehrenden Bewusstseins. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, von woher es kam und wohin es ging, wenn es verschwand. Der Tod war nicht weniger ein Wunder als die Geburt.
Die Hand, die er hielt, schloss sich um seine. Concettas Blick richtete sich auf Dan, und sie lächelte. Es war ein zaghaftes Lächeln, aber doch vorhanden.
»O mio caro! Sei tu? Sei tu? Come è possibile? Sei morto? Sono morta anch’io? … Siamo fantasmi?«
Dan sprach kein Italienisch, aber das war auch nicht nötig. Was sie sagte, hörte er mit vollkommener Klarheit in seinem Kopf:
Ach, mein Lieber, bist du es? Bist du es? Wie ist das möglich? Bist du tot? Bin ich es auch?
Dann, nach einer Pause:
Sind wir Geister?
Er beugte sich zu ihr, bis seine Wange die ihre berührte.
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Nach einer Weile erwiderte sie sein Flüstern.
5
Das Gespräch war kurz, aber aufschlussreich. Concetta sprach hauptsächlich auf italienisch. Schließlich hob sie die Hand – mit großer Mühe, aber sie schaffte es – und streichelte Dan die stoppelige Wange. Sie lächelte.
»Sind Sie bereit?«, fragte er.
»Sì. Bereit.«
»Sie brauchen vor nichts Angst zu haben.«
»Sì, das weiß ich. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Sagen Sie mir noch einmal Ihren Namen, Signore.«
»Daniel Torrance.«
»Sì. Sie hat der liebe Gott geschickt, Daniel Torrance. Sei un dono di Dio.«
Dan hoffte, dass das stimmte. » Werden Sie mir schenken, worum ich Sie gebeten habe?«
»Sì, natürlich. Alles, was Sie brauchen, per Abra.«
»Und ich werde Ihnen auch etwas schenken, Concetta. Wir werden gemeinsam aus dem
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