Doctor Sleep (German Edition)
dass sie die Musik mochte.«
Das fand John nicht weiter bemerkenswert. Die meisten Babys mochten Musik und verfügten über bestimmte Methoden, das ihrer Umwelt mitzuteilen.
»In dem Buch waren alle Hits – ›Hey Jude‹, ›Lady Madonna‹, ›Let It Be‹ –, aber am liebsten mochte Abra einen der weniger bekannten Songs, eine B-Seite mit dem Titel ›Not a Second Time‹. Kennen Sie den?«
»Nicht dem Titel nach«, sagte John. » Wenn ich ihn höre, vielleicht.«
»Er ist peppig, aber im Gegensatz zu den meisten schnellen Titeln der Beatles ist er auf einem Piano-Riff aufgebaut statt auf dem üblichen Gitarrensound. Es ist zwar kein Boogie-Woogie, aber doch so ähnlich. Abra war begeistert davon. Wenn Lucy den Song gespielt hat, dann hat sie nicht einfach nur mit den Beinen gestrampelt, sondern ist regelrecht Rad gefahren.« David lächelte bei der Erinnerung daran, wie Abra in ihrem hellvioletten Strampler auf dem Rücken gelegen und wie eine Diskoqueen getanzt hatte, obwohl sie noch gar nicht laufen konnte. »Die Instrumentaleinlage wird fast vollständig vom Klavier bestritten und ist ausgesprochen simpel. Die linke Hand spielt einfach eine Note nach der anderen. Es sind nur neunundzwanzig, ich hab nachgezählt. Das könnte selbst ein Kind spielen. Und unser Kind hat es getan.«
John hob die Augenbrauen, bis sie fast den Haaransatz berührten.
»Es hat im Frühjahr 2002 angefangen. Lucy und ich lagen im Bett und haben gelesen. Im Fernsehen lief der Wetterbericht, und der kommt etwa in der Mitte der Elf-Uhr-Nachrichten. Abra war in ihrem Zimmer und hat tief und fest geschlafen. Dachten wir jedenfalls. Lucy hat mich gebeten, den Fernseher auszuschalten, weil sie schlafen wollte. Ich hab auf die Fernbedienung gedrückt, und da haben wir es gehört. Die Instrumentaleinlage aus ›Not a Second Time‹, diese neunundzwanzig Noten. Perfekt. Keine einzige war falsch, und sie kamen von unten.
Doc, wir sind zu Tode erschrocken. Wir dachten, ein Einbrecher ist im Haus, bloß welche Sorte Einbrecher spielt erst ein paar Takte Beatles, bevor er das Tafelsilber einsackt? Ich habe keine Pistole, und meine Golfschläger waren in der Garage, also habe ich einfach das größte Buch genommen, das ich finden konnte, und bin nach unten geschlichen, um dem Eindringling entgegenzutreten. Ziemlich dämlich, ich weiß. Ich hab Lucy gesagt, wenn ich schreie, soll sie zum Telefon greifen und die Polizei rufen. Aber unten war niemand, und alle Türen nach draußen waren verriegelt. Außerdem war am Klavier die Klappe über den Tasten geschlossen.
Ich bin wieder raufgegangen und hab Lucy gesagt, ich hätte nichts und niemand entdeckt. Dann sind wir gemeinsam durch den Flur zu Abras Zimmer gegangen, um nach ihr zu schauen. Wir haben vorher nicht darüber gesprochen, sondern es einfach getan. Ich glaube, wir wussten, dass es Abra gewesen war, aber keiner von uns wollte es laut aussprechen. Sie lag wach in ihrem Bettchen und sah uns an. Sie kennen doch die klugen Äuglein, die so kleine Kinder haben, oder?«
John kannte sie. Als könnten solche Kinder einem alle Geheimnisse des Universums offenbaren, wenn sie nur sprechen könnten. Manchmal dachte er, sie wüssten vielleicht wirklich alle Geheimnisse, nur habe Gott es so eingerichtet, dass sie dann, wenn sie mehr als nur Gu-gu-ga-ga zustande brachten, alles wieder vergessen hatten, so wie man selbst seine lebhaftesten Träume vergaß, sobald man einige Stunden wach war.
»Als sie uns sah, hat sie gelächelt und die Augen geschlossen, und dann ist sie eingeschlafen. In der nächsten Nacht ist es wieder passiert. Zur selben Zeit. Diese neunundzwanzig Noten aus dem Wohnzimmer … dann Stille … und dann sind wir in Abras Zimmer gegangen und haben sie wach vorgefunden. Sie hat kein Theater gemacht, hat nicht mal an ihrem Schnuller genuckelt, sondern uns nur angesehen. Dann ist sie eingeschlafen.«
»Und das ist alles wahr«, sagte John. Es war eigentlich keine Frage, er wollte sich nur letzte Klarheit verschaffen. »Sie wollen mich nicht auf den Arm nehmen.«
David lächelte nicht. »Nicht mal ansatzweise.«
John sah Chetta an. »Haben Sie das auch schon einmal mitbekommen?«
»Nein. Lassen Sie David zu Ende erzählen.«
» Wir haben uns ein paar Abende freigenommen, und … Sie wissen ja, dass das Geheimnis einer erfolgreichen Erziehung, wie man so schön sagt, darin besteht, immer einen Plan aufzustellen.«
»Klar.« Das war der wichtigste Rat, den John Dalton
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