Doctor Sleep (German Edition)
ist, darüber zu reden.«
»Ist mit Abra etwas nicht in Ordnung? Dann sagen Sie es mir, bitte. Laut ihrer letzten Untersuchung geht es ihr ausgezeichnet. Sie ist furchtbar intelligent. Hat eine ausgezeichnete soziale Kompetenz. Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist fantastisch. Lesen kann sie scheinbar auch schon. Als sie das letzte Mal hier war, hat sie mir Wo die wilden Kerle wohnen vorgelesen. Das war zwar wahrscheinlich auswendig gelernt, aber für ein Kind, das noch keine drei Jahre alt ist, trotzdem bemerkenswert. Weiß Lucy eigentlich, dass Sie hier sind?«
»Natürlich«, sagte David. »Lucy und Chetta haben mich schließlich unter Druck gesetzt hierherzukommen. Lucy ist mit Abra zu Hause und backt Kuchen für die Party. Als ich gegangen bin, hat die Küche wie ein Schlachtfeld ausgesehen.«
»Also, worum geht es? Soll ich als Beobachter zu Abras Party kommen?«
»Genau«, sagte Concetta. »Niemand von uns weiß, ob etwas passieren wird, aber wenn sie aufgeregt ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, und was ihre Party angeht, ist sie sehr aufgeregt. Alle ihre kleinen Freunde aus der Tagesstätte kommen, außerdem haben wir einen Clown bestellt, der Zaubertricks vorführen wird.«
John zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Notizblock heraus. » Was erwarten Sie eigentlich genau?«
David zögerte. »Das ist … schwer zu sagen.«
Chetta sah ihn an. »Nun mach schon, David. Für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät.« Ihr Ton war leicht, fast fröhlich, aber John Dalton fand dennoch, dass sie besorgt aussah. Eigentlich sahen beide besorgt aus. »Fang mit der Nacht an, in der sie losgebrüllt hat und nicht aufhören wollte.«
5
David Stone unterrichtete am College seit zehn Jahren Grundkurse in amerikanischer Geschichte und moderner europäischer Geschichte und wusste, wie man eine Erzählung so aufbaut, dass ihre innere Logik Wirkung zeigt. Er begann mit dem Hinweis, dass das Marathongezeter seiner Tochter fast augenblicklich geendet hatte, nachdem die zweite Passagiermaschine in das World Trade Center gerast war. Es folgte eine Rückblende auf die Träume, in denen seine Frau die Nummer des American-Airlines-Flugs auf Abras Brust gesehen hatte und er die des United-Flugs.
»In Lucys Traum war Abra auf einer Flugzeugtoilette. In meinem war sie in einem brennenden Einkaufszentrum. Daraus können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Oder auch nicht. Aus meiner Sicht sind die Flugnummern jedenfalls ein ziemlich eindeutiger Beweis. Wofür, weiß ich allerdings nicht.« Er lachte wenig überzeugend, hob die Hände und ließ sie wieder sinken. » Vielleicht habe ich auch Angst, es zu wissen.«
John Dalton erinnerte sich sehr gut an den Morgen des elften Septembers und an Abras Nonstop-Geschrei. »Nur damit ich’s richtig verstehe: Sie meinen, dass Ihre Tochter – die damals erst fünf Monate alt war – eine Vorahnung der Anschläge hatte und Sie davon auf telepathische Weise unterrichtet hat.«
»Genau«, sagte Chetta. »Sehr prägnant ausgedrückt. Bravo.«
»Ich weiß, wie sich das anhört«, sagte David. »Deshalb haben Lucy und ich es ja auch für uns behalten. Chetta ist die einzige Ausnahme. Lucy hat es ihr schon in jener Nacht erzählt. Sie erzählt ihrer Momo alles.« Er seufzte. Concetta warf ihm einen kühlen Blick zu.
»Sie selber haben aber keinen solchen Traum gehabt?«, fragte John sie.
Concetta schüttelte den Kopf. »Ich war in Boston. Außerhalb ihrer … wie soll ich sagen … Sendereichweite?«
»Seit Nine-Eleven sind fast drei Jahre vergangen«, sagte John. »Ich nehme mal an, dass inzwischen noch andere Dinge geschehen sind.«
Eine Menge andere Dinge waren geschehen, und da David es nun über sich gebracht hatte, von dem ersten (und unglaublichsten) Vorfall zu berichten, war er in der Lage, relativ leicht über den Rest zu sprechen.
»Das Klavier. Das kam als Nächstes. Wissen Sie, dass Lucy Klavier spielt?«
John schüttelte den Kopf.
»Das tut sie seit ihrer Schulzeit. Nicht großartig, aber sie ist ziemlich gut. Wir haben ein Vogel-Klavier, das meine Eltern ihr als Hochzeitsgeschenk gekauft haben. Es steht im Wohnzimmer, wo früher auch Abras Laufställchen war. Tja, eines der Geschenke, die ich Lucy zu Weihnachten 2001 gemacht habe, war ein Buch mit Beatles-Partituren für Klavier. Abra lag immer in ihrem Ställchen, hat sich mit ihren Spielsachen beschäftigt und zugehört. Daran, wie sie gestrahlt und mit den Füßen gestrampelt hat, sah man,
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