Doctor Sleep (German Edition)
von der Wand weg. Abra flitzte sofort in den entstandenen Spalt. Lucy, die befürchtete, es könnte dort ziemlich staubig sein, von Insekten und Mäusen ganz zu schweigen, grabschte nach Abras T-Shirt, erwischte es jedoch nicht. Als sie die Kommode weit genug hervorgezogen hatte, dass sie selbst hätte dahinterschlüpfen können, hielt Abra einen Zwanzigdollarschein in der Hand, der offenbar durch den Spalt zwischen Spiegel und Platte gerutscht war. »Da!«, sagte sie vergnügt. »Gell! Mein Gell!«
»Von wegen«, sagte Lucy und zupfte ihr den Schein aus dem Fäustchen. »Kleine Kinder kriegen kein Geld, weil sie nämlich keins brauchen. Aber du hast dir gerade ein Eis verdient.«
»Aaais!«, rief Abra. » Mein Aaais!«
»Die Sache mit Mrs. Judkins kannst ja du erzählen«, sagte David zu seiner Schwiegeroma. »Die hast du schließlich selbst mitbekommen.«
»Allerdings«, sagte Concetta. »Das war ein Wochenende!«
Im Sommer 2003 hatte Abra begonnen, in – mehr oder weniger – vollständigen Sätzen zu sprechen. Concetta war gekommen, um das Feiertagswochenende nach dem vierten Juli bei den Stones zu verbringen. Am Sonntag, der auf den sechsten Juli fiel, war Dave zum Supermarkt gefahren, um eine neue Flasche Propangas für den Gartengrill zu besorgen. Abra spielte im Wohnzimmer mit ihren Bauklötzen. Lucy und Chetta waren in der Küche, wobei eine der beiden gelegentlich nach der Kleinen sah, um zu verhindern, dass diese den Stecker des Fernsehers aus der Dose zog und daran lutschte oder den Sofa-Berg erklomm. An solchen Unternehmungen zeigte Abra jedoch kein Interesse; sie war damit beschäftigt, aus ihren Plastikklötzen eine Art Stonehenge zu bauen.
Lucy und Chetta räumten gerade die Geschirrspülmaschine aus, als Abra losbrüllte.
»Es hat sich angehört, als würde sie sterben«, erzählte Chetta. »Sie wissen doch, wie erschreckend so was ist, oder?«
John nickte. Das wusste er.
»In meinem Alter kommt man nicht mehr so ohne Weiteres ins Rennen, aber an dem Tag bin ich gerannt wie Wilma Rudolph. Hab es ein gutes Stück vor Lucy ins Wohnzimmer geschafft. Zuerst hab ich tatsächlich Blut gesehen, so sehr war ich davon überzeugt, dass die Kleine sich wehgetan hatte. Aber es war ihr nichts passiert. Körperlich jedenfalls. Sie ist auf mich zugelaufen und hat die Arme um meine Beine geschlungen. Ich hab sie aufgehoben. Inzwischen war Lucy bei mir, und gemeinsam haben wir es geschafft, Abra ein wenig zu beruhigen. ›Wannie!‹, hat sie gesagt. ›Hilf Wannie, Momo! Wannie hindefallen!‹ Ich wusste nicht, wer Wannie war, aber Lucy schon – Wanda Judkins, die Nachbarin gegenüber.«
»Das ist Abras Lieblingsnachbarin«, warf David ein. » Wenn sie Kekse backt, bringt sie nämlich meist einen für Abra rüber. Da steht dann deren Name drauf, manchmal in Rosinen, manchmal in Zuckerguss. Sie ist Witwe. Lebt allein.«
»Also sind wir rübergegangen«, erzählte Chetta weiter. »Ich voraus, Lucy mit Abra auf dem Arm dahinter. Niemand hat aufgemacht. ›Wannie im Essenzimmer!‹, hat Abra gesagt. ›Hilf Wannie, Momo! Hilf Wannie, Mama! Wannie hat wehdemacht, Blut kommt raus!‹
Die Tür war nicht abgeschlossen. Wir sind rein. Sofort hab ich den Geruch von verbrannten Keksen gerochen. Mrs. Judkins lag im Esszimmer neben einer Trittleiter auf dem Boden. Das Tuch, mit dem sie den Sims abgestaubt hatte, war noch in ihrer Hand, und da war tatsächlich Blut – eine ganze Lache rund um den Kopf wie ein Heiligenschein. Ich dachte, sie ist tot, weil man nicht sah, ob sie atmete, aber Lucy hat einen Puls gefunden. Bei dem Sturz hatte sie sich den Schädel gebrochen, und sie hatte eine kleine Gehirnblutung, ist aber schon am nächsten Tag aufgewacht. Übrigens kommt sie zu Abras Geburtstagsparty. Wenn Sie auch kommen, können Sie sie kennenlernen.« Chetta sah John Dalton direkt in die Augen. »Der Arzt in der Notaufnahme hat gesagt, wenn sie länger da gelegen hätte, wäre sie entweder gestorben oder in ein Wachkoma gefallen … was meiner bescheidenen Meinung nach wesentlich schlimmer ist als der Tod. Jedenfalls hat die Kleine ihr das Leben gerettet.«
John warf seinen Kugelschreiber auf den Notizblock. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte David. »Aber die anderen Sachen sind schwer zu beurteilen. Vielleicht nur weil Lucy und ich uns daran gewöhnt haben. So wie man sich wahrscheinlich daran gewöhnt, ein Kind zu haben, das blind geboren ist. Bloß ist es das genaue
Weitere Kostenlose Bücher