Doctor Sleep (German Edition)
abwischte und dann anfing, auf der Basis der aktuellen Belegungsliste die Namen und Zimmernummern wieder hinzuschreiben. Als er mittags nach oben kam, hätte er sich nicht gewundert, die Tafel wieder leer und anstelle der Namen und Nummern ein hAll J vorzufinden, aber alles war so, wie er es hinterlassen hatte.
10
Abras Geburtstagsparty fand im Garten der Stones statt, einer wunderschönen grünen Rasenfläche mit Apfel- und Hartriegelbäumen, die gerade zu blühen begannen. Das Tor in dem Maschendrahtzaun am Ende des Gartens war durch ein Zahlenschloss gesichert. Der Zaun war ausgesprochen unschön, was David und Lucy jedoch egal war, denn dahinter kam der Saco River, der sich durch Frazier und North Conway nach Südosten in Richtung Maine schlängelte. Flüsse und kleine Kinder waren nach Meinung der Stones keine gute Kombination, besonders nicht im Frühling, wenn der Saco durch die Schneeschmelze anschwoll und turbulent wurde. Jedes Jahr berichtete das wöchentlich erscheinende Lokalblatt von mindestens einem Ertrunkenen.
An diesem Tag war im Garten allerdings genügend los, dass die Kinder beschäftigt waren. Das einzige organisierte Spiel, das man zustande brachte, war eine kurze Polonaise, aber die Kleinen waren nicht zu klein, als dass sie kreuz und quer auf dem Rasen herumrannten (beziehungsweise sich gelegentlich herumrollten), wie Äffchen auf Abras Spielturm herumkletterten, durch die bunten Tunnels krochen, die David mithilfe einiger anderer Väter aufgebaut hatte, und die inzwischen überall herumtreibenden Luftballons durch die Gegend hauten. Letztere waren alle gelb (Abras absolute Lieblingsfarbe), und es waren, wie John Dalton bestätigen konnte, mindestens sechs Dutzend. Er hatte Lucy und deren Großmutter geholfen, sie aufzublasen. Für eine Frau in den Achtzigern hatte Chetta erstaunlich viel Puste.
Abra eingerechnet, waren es neun Kinder, und da von jedem mindestens ein Elternteil mitgekommen war, gab es genügend Aufpasser. Auf der Veranda hatte man Gartenstühle aufgestellt, und als die Party so richtig in Gang gekommen war, ließ John sich dort neben Concetta nieder, die sich in Designerjeans und ihr Sweatshirt mit der Aufschrift BESTE UROMA DER WELT geworfen hatte. Sie arbeitete sich durch ein Riesenstück Geburtstagskuchen. John, der den Winter über ein paar Kilo zugelegt hatte, begnügte sich mit einer einzigen Kugel Erdbeereis.
»Ich weiß gar nicht, wo Sie das hinstecken«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf das zusehends kleiner werdende Kuchenstück auf Chettas Pappteller. »Sie haben überhaupt nichts am Leib. Dünn wie eine Bohnenstange.«
»Mag sein, mein Lieber, aber ich hab einen hohlen Zahn.« Sie ließ den Blick über die lärmende Kinderschar schweifen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wünschte, meine Tochter hätte das noch erlebt. Es gibt nicht viel in meinem Leben, was ich bedaure, aber das gehört dazu.«
John beschloss, sich nicht auf dieses Gesprächsthema einzulassen. Lucys Mutter Sandra war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Lucy jünger gewesen war als Abra jetzt. Das wusste er aus dem Blatt mit der Familiengeschichte, das die Stones gemeinsam ausgefüllt hatten.
Ohnehin wechselte Chetta das Thema selbst. » Wissen Sie, was ich an Kindern dieses Alters mag?«
»Nein.« John mochte Kinder jedes Alters … zumindest bis sie vierzehn wurden. Dann spielten ihre Hormone nämlich verrückt, und die meisten fühlten sich verpflichtet, ihrer Umgebung in den folgenden fünf Jahren gewaltig auf die Nerven zu gehen.
»Schauen Sie sich die Szene doch mal an, Johnny. Es ist die Kinderversion dieses Gemäldes von Edward Hicks, Das Königreich des Friedens . Sechs von ihnen sind weiß – klar, schließlich sind wir in New Hampshire –, aber da sind auch zwei schwarze und ein wunderhübsches koreanisch-amerikanisches Mädchen, das wie aus einem Katalog für Kindermode entsprungen aussieht. Sie kennen doch das Lied, das man oft in der Sonntagsschule singt – ›Rot und gelb, schwarz und weiß, Gott liebt alle Menschen gleich‹? Genau das sehen wir hier. Zwei Stunden läuft die Party schon, und keines der Kinder hat die Faust geballt oder ein anderes aus Zorn geschubst.«
John – dem schon viele Kleinkinder untergekommen waren, die getreten, geschubst, geboxt und gebissen hatten – setzte ein Lächeln auf, in dem sich Zynismus und Wehmut die Waage hielten. » Was anderes ist ja nicht zu erwarten, schließlich gehen sie alle in die schickste
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