Doctor Sleep (German Edition)
Tagesstätte weit und breit. Dort verlangt man entsprechende Gebühren. Das bedeutet, dass die Eltern alle mindestens zur oberen Mittelschicht gehören, einen Universitätsabschluss haben und daran glauben, dass man miteinander auskommen muss. Deshalb hat man diesen Kindern ein perfektes Sozialverhalten antrainiert.«
John ließ es dabei bewenden, weil Chetta ihn böse anfunkelte, aber er hätte noch weitergehen können. Er hätte sagen können, dass die meisten Kinder bis zum Alter von etwa sieben Jahren, dem sogenannten Alter der Vernunft, wie emotionale Echokammern reagierten. Wenn sie bei Menschen aufwuchsen, die miteinander auskamen und sich nicht anschnauzten, dann verhielten sie sich ebenso. Wurden sie hingegen von Leuten aufgezogen, die kratzten und brüllten, dann … nun ja …
Er behandelte Kinder nun schon zwanzig Jahre lang, ganz zu schweigen von der Erziehung zweier eigener Kinder, die inzwischen in guten, einem perfekten Sozialverhalten zuträglichen Internaten untergebracht waren. In dieser Zeit waren die romantischen Vorstellungen, die ihn bei der Entscheidung, Pädiater zu werden, beeinflusst hatten, zwar nicht völlig zunichtegemacht, aber doch modifiziert worden. Vielleicht kamen Kinder wirklich auf Wolken aus Herrlichkeit auf die Welt, wie Wordsworth so vertrauensvoll verkündet hatte, aber sie kackten auch in die Hose, bis sie gelernt hatten, dass man das lieber nicht tun sollte.
11
Silberhelle Glöckchen – wie die eines Eiswagens – erklangen in der Nachmittagsluft. Die Kinder drehten sich danach um, neugierig, was da wohl ankam.
Von der Garageneinfahrt der Stones her rollte eine liebenswerte Erscheinung auf den Rasen: ein junger Mann auf einem extrem überdimensionierten roten Dreirad. Er trug weiße Handschuhe und einen Anzug mit stark wattierten Schultern. Im Knopfloch hatte er eine Blume von der Größe einer Treibhausorchidee stecken. Seine ebenfalls übergroßen Hosen waren bis zu den Knien hochgezogen, damit er gefahrlos in die Pedale treten konnte. Am Lenker hingen diverse Glöckchen, die er mit den Fingen läutete, während sein Dreirad ständig von einer Seite auf die andere schwankte, ohne ganz umzufallen. Auf dem Kopf des jungen Mannes saß eine wirre, blaue Perücke, bedeckt von einer riesigen, braunen Melone. Hinter ihm kam David Stone, in einer Hand einen großen Koffer, in der anderen einen Klapptisch. Er sah nachdenklich drein.
»Hallo, Kinder!«, rief der Mann auf dem Dreirad. »Hallo, Kinder! Herbei, herbei, denn jetzt beginnt sie gleich, die Show! « Das musste er nicht zweimal sagen, denn die Kleinen liefen schon lachend und kreischend auf sein Dreirad zu.
Lucy gesellte sich zu John und Chetta, setzte sich, schob clownesk die Unterlippe vor und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. Am Kinn hatte sie einen Fleck aus Schokoglasur. »Da ist er, der Zauberer. Im Sommer tritt er als Straßenkünstler in Frazier und North Conway auf. Dave hat in einem von diesen Wochenblättchen eine Anzeige von ihm entdeckt, sich seine Show mal angesehen und ihn angeheuert. Eigentlich heißt er Reggie Pelletier, aber er nennt sich Der große Mysterio . Sehen wir mal, wie lange er die Kleinen bei der Stange halten kann, sobald sie sich sein schickes Dreirad angeschaut haben. Ich glaube, drei Minuten – höchstens.«
John fand, dass sie da unrecht haben könnte. Der Auftritt des jungen Mannes war perfekt darauf kalkuliert, die kindliche Fantasie anzuregen, und seine Perücke war lustig, statt den Kleinen Angst einzujagen. Auf seinem fröhlichen Gesicht war keine Spur Schminke, was ebenfalls eine gute Idee war. Die Wirkung von Clowns wurde nach Johns Meinung völlig falsch eingeschätzt. Kindern unter sechs Jahren jagten sie eine Heidenangst ein, ältere Kinder fanden sie hingegen einfach langweilig.
Meine Güte, hab ich heute eine miese Laune.
Das lag vielleicht daran, dass er irgendein krasses Ereignis erwartet hatte, und nichts war geschehen. Aus seiner Sicht war Abra ein völlig normales kleines Kind. Womöglich fröhlicher als die meisten ihrer Altersgenossen, aber die gute Laune schien in der Familie zu liegen. Außer wenn Chetta und Dave sich gegenseitig angifteten, natürlich.
»Man darf die Aufmerksamkeitsspanne kleiner Kinder nicht unterschätzen.« Er beugte sich an Chetta vorbei zu Lucy, um ihr mit seiner Papierserviette die Schokolade vom Kinn zu wischen. » Wenn er was vorbereitet hat, wird er sie mindestens fünfzehn Minuten bei der Stange halten. Vielleicht
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