Doener, Machos und Migranten
Schule abgeschlossen hatte, erzählte mir mein Bruder einmal, dass der Schulleiter der Grundschule die Schüler bei Fehlverhalten geohrfeigt hätte. Dies hatte mein Bruder meinen Eltern nie anvertraut – er wäre vermutlich auch gar nicht auf die Idee gekommen, das zu tun. Durch ihre Unsicherheit hätten sie es nicht gewagt, gegen diese körperliche Züchtigung vorzugehen. Ich kann mich an kaum eine Situation in unserer Kindheit erinnern, in der meine Eltern etwas widersprochen oder auch nur kritisiert hätten. Alles was z.B. Lehrer, Erzieher, Nachbarn oder Vermieter sagten, wurde hingenommen. Die Sprachbarrieren hinderten sie noch zusätzlich, irgendetwas Kritisches zu erwidern.
Die Wochen vergingen immer sehr schnell und die Wochenenden noch viel schneller. Schon nach ein paar Monaten batmein Vater seinen Arbeitgeber, nur noch in den Nachtschichten arbeiten zu können. So war die Betreuung meines Bruders, der schon früh aus der Schule nach Hause kam, gewährleistet.
Wenn meine Eltern an einem Samstag nicht arbeiten mussten, gingen wir alle zusammen nach dem Frühstück einkaufen. In etwa vier Kilometer Entfernung gab es ein großes Kaufhaus, in dem man von Bekleidung bis zu Haushaltswaren und Lebensmitteln alles bekam, was eine Familie benötigte. Da meine Eltern zu dieser Zeit noch keinen Führerschein besaßen und wir infolgedessen kein Auto hatten, mussten wir sämtliche Besorgungen zu Fuß erledigen. Ich habe diese Einkäufe gehasst. Die vier Kilometer lange Strecke kam mir als Kindergartenkind mindestens zehnmal so lang vor, zumal wir auf dem Rückweg auch noch unendlich viele schwere Taschen und Tüten schleppten, denn meine Eltern erledigten in diesem Kaufhaus mit dem sprechenden Namen «Disco» den gesamten Wocheneinkauf. Bestimmt war dieser «Samstagsausflug» nicht nur für uns Kinder, sondern auch für meine Eltern mit viel Stress verbunden.
Nach unserer Rückkehr begann meine Mutter zu kochen, unendlich viel zu kochen. Einerseits kochte sie schon für einen Teil der Woche vor, andererseits kam in der Regel alle 14 Tage am Samstagabend eine andere Familie zum Essen zu uns. Dabei handelte es sich meist um andere Migrantenfamilien, mit deren Angehörigen meine Eltern zusammenarbeiteten. Deutsche Familien kannten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. In der Woche darauf wurden dann meist wir eingeladen.
Diese Samstagabende haben wir Kinder geliebt. Unsere Eltern waren dann immer besonders ausgelassen. Es wurde viel gelacht, getanzt, gespielt und noch viel mehr gegessen. Jede türkische Familie hatte mindestens zwei bis drei Kinder. Wir durften immer so lange miteinander spielen, solange unsereEltern den Abend genossen. Ein solcher Familienabend endete in der Regel um 23 oder 24 Uhr.
In der türkischen Kultur ist die Erwachsenenwelt mit der Kinderwelt vereint. Eine starke Trennung dieser beiden Bereiche, wie sie in Deutschland üblich ist, wird nicht vorgenommen. Mit anderen Worten: Wir mussten nicht um 20 Uhr ins Bett. Die Kinder waren bei allen Wochenendaktivitäten stets dabei, die gesamte Familie verbrachte die freie Zeit miteinander.
Der in dieser Hinsicht bestehende Unterschied zwischen Türken und Deutschen ist mir besonders bewusst geworden, als wir einige Zeit später gemeinsam mit unseren Eltern eine deutsche Familie besuchten. Deren Kinder mussten spätestens gegen 21 Uhr ins Bett oder durften ausnahmsweise etwas länger aufbleiben, weil ja Besuch da war.
Von Anfang an bestand Deutschland für uns aus vielen Regeln. Wir mussten ja sogar fragen, wenn wir in bestimmten Bereichen des Kindergartens spielen wollten. Für alles gab es Regeln. Regeln, wann gegessen wird, wann gespielt wird und wann geschlafen wird.
Sonntags war immer unser Schwimmtag, sprich an dem einzig freien Tag meines Vaters waren wir bereits um 9 Uhr im Hallenbad. Nach den anstrengenden Nachtschichten in der Woche ging mein Vater jeden Sonntag mit uns schwimmen. Da wir kein Badezimmer in unserer Wohnung hatten, wurde dabei das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Während wir nach dem Schwimmen gründlich duschten, bereitete meine Mutter ein königliches Frühstück vor. Es gab nichts Schöneres, als hungrig und ausgetobt vom Schwimmen nach Hause zu kommen und schon an der Wohnungstür den Duft von gebratenen Eiern und heißem Tee zu riechen. Und sich dann an einen gedeckten Tisch zu setzen und es sich schmecken zu lassen.
Was wir mit dem Rest des Tages machten, hing von der Jahreszeit ab. Spaziergänge, Zoobesuche oder
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