Doener, Machos und Migranten
Haus waren weitere türkische Familien, zwei deutsche Familien und einige ältere Deutsche, die wir lediglich im Hausflur grüßten. Niemand schien sich für die neuen Nachbarn zu interessieren. Durch den Hinterausgang gelangte man in einen begrünten Innenhof, der im Sommer zum Trocknen der Bettwäsche genutzt wurde. Für uns Kinder bot er ein wenig Platz zum Spielen.
In der Straße, in der unser neues Zuhause lag, wohnte allenfalls eine Handvoll türkische Familien. Es war also keine Straße, die ausschließlich von Gastarbeiterfamilien bevölkert wurde, vielmehr waren deutsche Familien eindeutig in der Überzahl. Die meisten Häuser hatten begrünte Innenhöfe und kleine Gärten. Nach kurzer Zeit lernten wir unsere Nachbarskinder kennen und spielten mit ihnen in diesen Innenhöfen oder auf der Straße. Zum Glück waren die Straßen in den 70er-Jahren noch nicht so stark befahren wie heute. Spielend und ohne es zu merken, lernten wir Deutsch auf der Straße.
Ich lernte ein deutsches Mädchen kennen, das meinebeste Freundin wurde. Sie war gleichaltrig und wohnte ein paar Häuser weiter. Ihr Vater hatte einen Gebrauchtwagenhandel und verbrachte die meiste Zeit in seiner Firma. Ihre Mutter war Hausfrau und konnte sich gänzlich um sie und ihre jüngere Schwester kümmern. Ich muss zugeben, dass ich meine Freundin um diese ungeteilte Zuwendung seitens ihrer Mutter beneidet habe.
In jeder freien Minute spielten wir Mädchen miteinander. Wenn es draußen zu kalt war oder regnete, durfte ich zu ihr gehen oder sie kam zu mir. Allerdings gab es etwas, das mich stark verwunderte. Jedes Mal, wenn wir bei ihr spielten, kam der Moment, wo sie von ihrer Mutter zum Essen gerufen wurde. Die Mutter sagte dann zu mir: «Du kannst hier weiter spielen, Gabi kommt wieder, sobald sie mit dem Essen fertig ist.» Nicht ein einziges Mal kam Gabis Mutter auf die Idee, mich zu fragen, ob ich vielleicht mitessen wolle. Ihrer Verwandtschaft wurde ich stets als das «türkische Mädchen mit den schönen dunklen Augen» vorgestellt. Bei uns hieß es hingegen immer nur, «das ist die Gabi, Betüls Freundin». Nationalität und Augenfarbe wurden nicht hervorgehoben.
Da fast jeder Türke fußballbegeistert ist und mein Vater sich hierin nicht vom Rest seiner Landsleute unterscheidet, wurde mein Bruder sehr schnell in einem Fußballverein angemeldet. Fußball nimmt nach Essen und Reden den dritten Rang im Leben der Türken ein, auch wenn die meisten von ihnen noch nie auf einem Fußballfeld gestanden haben. Letzteres trifft auf meinen Vater nicht zu. Er spielte selbst aktiv bis zur letzten Seniorenliga.
Fortan war der Samstag für die Fußballspiele meines Bruders reserviert. Ganz plötzlich waren wir aktive Mitglieder im Fußballverein, sprich: Wir fuhren zu allen Heim- und Auswärtsspielen mit und nahmen natürlich an allen jahreszeitlichbedingten Feierlichkeiten teil. Bei Letzteren lernten wir kennen und lieben, was deutsche Organisation bedeutet.
Vor allem die Weihnachtsfeiern sind mir in besonderer Erinnerung geblieben: ein großer, festlich geschmückter Saal mit einem Weihnachtsbaum, auf dem die bunten Kugeln nur so glänzten. Der Nikolaus kam mit seinem goldenen Buch und konnte tatsächlich zu jedem Kind etwas Persönliches sagen. Nach seiner Ansprache bekam jedes Kind eine prallvoll gepackte Tüte mit Süßigkeiten. Die Integration funktionierte. Sie ging sogar so weit, dass fast all unsere Vornamen eingedeutscht wurden. Meine Mutter hieß «Rezi» anstatt Rezzan. Mein Bruder Ercan wurde zu «Ernie». Der Spitzname meines Vaters war «Amigo» und ich hieß auf einmal «Bettina». Damals liebte ich diese Art von Integration. Ich wollte ein Teil dieser Gesellschaft sein.
Meinen Eltern gefiel der Brauch, zur Weihnachtszeit alles festlich zu schmücken. Am Abend vor Nikolaus mussten wir unsere Stiefel putzen und sie vor die Wohnungstür stellen. Schon bald feierten auch wir zu Hause Weihnachten. Es ging sogar so weit, dass ein Christbaum gekauft und geschmückt wurde. Am 24. Dezember, dem christlichen Heiligen Abend, gab es bei uns Bescherung – sehr zur Verwunderung unserer türkischen Freunde. Für uns stellte Weihnachten nie ein religiöses Fest dar, sondern war eher folkloristisch begründet. Wir Kinder liebten dieses Fest, und meine Eltern wollten uns eine Freude bereiten. Wenn unsere türkischen Bekannten fragten, warum wir einen Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer stehen hatten, gaben meine Eltern die simple Antwort: «Weil
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