Doener, Machos und Migranten
sprachen sie die gleiche Sprache wie die Grenzbeamten.
Als wir in Deutschland losfuhren, verließ ich meine Heimat. Dennoch spürte ich nun wieder viel Vertrautes um mich herum, und mich überkam erneut ein Gefühl von Heimat. Es unterschied sich durch nichts von dem Gefühl, das ich empfand, als wir aus Wattenscheid aufbrachen.
Istanbul präsentierte sich unwiderstehlich und sprühte nur so vor Leben. Die unzähligen Autos, die Vielzahl der Häuser, die sich kreuzenden Straßen und engen Gassen und nichtzuletzt die riesige Ansammlung von Menschen wirkten unüberschaubar und verwirrten mich. Auf klapprigen Handkarren wurden die verschiedensten Waren auf der Straße angeboten: ofenfrische Sesamkringel, Reis mit Kichererbsen, Börek, Pistazien, Haselnüsse, Oliven, Melonen, Weintrauben, Tomaten oder sogar Haushaltswaren. Alles wirkte wie auf einem riesigen Basar unter freiem Himmel. Zum Teil wurde die Ware akrobatisch aufeinander gestapelt und fiel dennoch nicht um. Wollte man zum Beispiel den vorletzten Plastikeimer kaufen, der in zwei Meter Höhe befestigt war, so verstand es der fliegende Händler geschickt, genau diesen Eimer herunterzuholen. Obwohl dies nicht meine gewohnte Welt war, sprachen wir dennoch die gleiche Sprache.
Die Eigentumswohnung, die einst auch unser Zuhause gewesen war, wurde nun von meiner Tante Hayriye allein bewohnt. Sie hatte sich in der Zwischenzeit von ihrem Mann scheiden lassen und wich während unseres Istanbul-Aufenthalts nicht einen Meter von unserer Seite. Wir nahmen sie überallhin mit. In der Regel blieben wir während des Urlaubs zehn Tage in Istanbul und fuhren dann in einen kleinen Badeort namens Tekirdag, der etwa zwei Stunden Autofahrt entfernt lag. Dort mieteten wir ein Apartment in einer Ferienanlage mit ausschließlich türkischen Gästen. Die meisten Urlauber stammten aus Istanbul oder aus Izmir.
Das Schöne an dieser Anlage war, dass wir dort jedes Mal die gleichen Familien trafen. Sie verbrachten ihre gesamten Sommerferien, sprich drei Monate, an diesem Ort. Die Ehemänner kamen nur am Wochenende und reisten Montag früh zurück, um die Woche über ihrer Arbeit nachzugehen. Die Herzlichkeit, mit der wir empfangen wurden, und die Vertrautheit, die schon nach wenigen Stunden zwischen mir und meinen Freundinnen entstand, verblüfften mich immer wieder.
Ich habe meine Freundinnen um ihre drei Monate langen Sommerferien beneidet, denn unsere läppischen drei Badewochen vergingen natürlich immer wie im Fluge. Am Abreisetag kamen alle Gäste der Ferienanlage, um uns zu verabschieden. Ein Menschenauflauf, unzählige Umarmungen, Wangenküsse und einige Tränen, die über die Wangen flossen. Zum Schluss wurde noch ein Eimer Wasser hinter uns hergeschüttet. Dieser Brauch soll dafür sorgen, dass die Abreisenden auch immer wiederkehren. In Istanbul machten wir noch ein paar Besorgungen, dann hieß es auch für uns, Abschied zu nehmen – von meiner Tante und unseren Nachbarn. Das waren stets sehr traurige Momente, zumal uns die «Höllenfahrt» in entgegengesetzter Richtung noch bevorstand. Bekanntlich ist die Fahrt in den Urlaub ja um ein Vielfaches schöner als die Fahrt zurück.
Während in der Türkei Unbeschwertheit und Leichtigkeit geherrscht hatten, nahm in Deutschland das Arbeitsleben wieder seinen gewohnten Lauf. Mein Vater wechselte erneut seine Arbeitsstelle. Er arbeitete nun als Hilfsschlosser und Hilfsschweißer in einer Fabrik in Herne. Hier verdiente er etwas mehr Geld und konnte weiterhin in unterschiedlichen Schichten arbeiten.
Die Jahre vergingen. Nach der Grundschulzeit wechselte ich zur weiterführenden Schule. Auf dem Gymnasium saß ich nun zwischen den Töchtern und Söhnen von besserverdienenden Eltern. Meine Eltern konnten mich inhaltlich zwar nicht unterstützen, ließen mir jedoch sämtliche Freiheiten, mich schulisch zu entwickeln. Ich durfte an allen Klassenfahrten teilnehmen und auch der Schwimm- und Sportunterricht stand nie zur Diskussion. Warum sollte er auch? Meine Eltern sind europäische Türken. Das Tragen von Badeanzügen istund war nie ein Problem für sie. Die traditionell eingestellten Muslime hingegen haben bereits ein moralisches Problem mit unverhülltem Haar. Frauen und Mädchen müssen laut Koran ihren Körper und speziell ihre weiblichen Reize bedeckt halten. Weibliche Familienmitglieder würden in Badekleidung gegen die islamische Kleiderordnung verstoßen.
So sehr meine Eltern mir in schulischen Belangen Freiheiten
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