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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betuel Durmaz
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einräumten, so eng waren die Grenzen meiner Privatsphäre gesteckt. Ein Schulfreund, der mir kostenlos Nachhilfestunden in Mathematik gab, ging bei uns ein und aus. Und so war auch mein fester Freund offiziell immer nur mein «Schulkollege». Solange er als «Schulkollege» vorgestellt wurde, durfte er bei uns essen und ich ihn zu Hause besuchen. Wir mussten ja schließlich für die «Klausuren» üben. Es wäre unmöglich gewesen, meinen festen Freund auch als solchen zu definieren und vorzustellen. Dennoch war mein Elternhaus trotz aller Notlügen ein für türkische Verhältnisse immer noch vergleichsweise tolerantes Elternhaus. Ich kannte damals kein türkisches Mädchen, das sich mit männlichen Freunden treffen, geschweige denn sie zu sich nach Hause einladen durfte.
    Die Oberstufe besuchten noch vier weitere Migrantenkinder, an die ich mich erinnern kann. Zwei türkische Mädchen, ein türkischer Junge und ein russisches Mädchen. Da wir alles andere als in der Überzahl waren, hatte ich häufig das Gefühl, wir seien die Alibimigranten bzw. ich sei die «Vorzeigetürkin» der Schule – frei nach dem Motto: «Seht her, hier haben wir türkische Kinder, bei denen die Integration gelungen ist.» Mit sehr viel Fleiß und etlichen Nachhilfestunden in meinem «Lieblingsfach» Mathematik, die ich mir selbst organisierte, verließ ich die Schule 1988 mit der allgemeinen Hochschulreife.

    Nach dem Abitur wollte ich zunächst nichts mehr mit Schule zu tun haben. Ich strebte danach, mein Schulenglisch zu verbessern, und flog im Februar 1989 zu meiner Tante Hatice, der ältesten Schwester meines Vaters, nach Houston. Meine Eltern verzichteten auf ihren Sommerurlaub, um mir die mehrmonatige Reise zu ermöglichen. Immerhin sollte die Unterkunft kostenlos sein. Der Flug und das Taschengeld rissen ein großes Loch in ihre Haushaltskasse.
    Nach meinem USA-Aufenthalt bewarb ich mich als Flugbegleiterin bei der Lufthansa und arbeitete dort zehn Jahre im internationalen Flugbetrieb. Parallel dazu nahm ich nach ein paar Jahren Dienstzugehörigkeit ein Studium der Sonderpädagogik auf.
    Da ich hauptsächlich im interkontinentalen Flugbetrieb eingesetzt wurde, hatte ich in meinen Ruhezeiten zu Hause mehrere Tage frei, an denen ich mein Studium vorantreiben konnte. Den Stundenplan richtete ich nach meinem Flugplan aus. 1999 schließlich entschied ich mich, bei der Lufthansa zu kündigen und fortan im Schuldienst zu arbeiten.
    Im Studium muss man sich auf zwei sonderpädagogische Fachrichtungen festlegen. Zur Wahl stehen Körperbehinderten-, Hörgeschädigten-, Sprachbehinderten-, Sehbehinderten-, Erziehungsschwierigen-, Lernbehinderten- und Geistigbehindertenpädagogik. Ich entschied mich für die Geistigbehinderten- und Sprachbehindertenpädagogik.

    Meine Zeit als Lehramtsanwärterin verbrachte ich an einer Städtischen Schule für geistig behinderte Kinder in Gelsenkirchen Bulmke-Hüllen. Nach sehr kurzer Zeit stellte ich fest, dass mir die Arbeit mit geistig Behinderten nicht lag. Als examinierte Sonderschulpädagogin wird man aber genau dort eingestellt, wo gerade Bedarf ist. In meinem Fall geschah dies sehr zu meiner Freude an der Förderschule mit demFörderschwerpunkt „Lernen“– obwohl es bedeutete, mich noch einmal vollständig in einen neuen Aufgabenbereich, der mir gänzlich fremd war, einzuarbeiten.
4. Aller Anfang ist so schwer
    Über das landesweite Bewerberverfahren wurde mir direkt nach meiner Zeit als Lehramtsanwärterin für das Schuljahr 2000/2001 eine feste Lehrerstelle an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen in Gelsenkirchen angeboten. Die Schule liegt im Süden der Stadt, in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof, der Haupteinkaufsstraße sowie zu Verwaltungs- und Kultureinrichtungen. Zahlreiche Handwerks- und Industriebetriebe sind in wenigen Minuten zu erreichen. Das ist wichtig für unsere Schule, denn wir sollen die Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt vorbereiten und sie beim Übergang zwischen diesen Lebensabschnitten begleiten. Je näher also die reale Arbeitswelt der Schule liegt, umso besser, denn das verkürzt beispielsweise die Wege während der Berufspraktika.

    Der Einzugsbereich meiner Förderschule erstreckt sich über die Stadtteile Ückendorf, Rotthausen, Neustadt, Altstadt und Bulmke-Hüllen, die allesamt nicht zu den bevorzugten Wohnlagen Gelsenkirchens gehören. Die kulturellen, sportlichen und religiösen Bezugspunkte der Schülerschaft sind dem großen

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