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Doener, Machos und Migranten

Titel: Doener, Machos und Migranten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betuel Durmaz
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Unfall gesagt. Immer wenn ich die Sprache auf seine Eltern oder seinen Vater brachte, verstummte er gänzlich. Ich spürte förmlich, wie er sich innerlich anspannte. Dennoch vertraute er sich mir nicht an.
    Wenn ich Bakers Mutter auf ihren Mann ansprach und darauf hinwies, dass ja auch er Erziehungspflichten gegenüber seinem Sohn hätte, betonte sie stets, wie liebevoll er mit Baker und den anderen Kindern reden würde. Ihr Mann würde alles tun, um die Kinder vernünftig zu erziehen. Sie könne sich einfach nicht erklären, warum Baker und seine Brüder so über die Maßen auffällig wären. Bei ihnen daheim würden derartige Probleme nicht auftreten. Sobald die Sprache auf zu Hause kam, gelangten wir stets beim gleichen Punkt an: Schuld an allem sei allein die unreligiöse Gesellschaft. Allmählich glaubte ich dieser Frau gar nichts mehr.

    Eines Tages beschloss ich, gemeinsam mit unserer dienstältesten Kollegin Bakers Familie einen Hausbesuch abzustatten. Telefonisch kündigte ich ihn der Mutter an.
    Die Familie wohnte in Rotthausen, einem der Schule benachbarten Stadtteil im Süden Gelsenkirchens. Dort leben sehr viele Familien ausländischer Herkunft. Folglich ist diese Gegend das Haupteinzugsgebiet unserer Schülerschaft. Bakers Familie bezog ihr Geld vom Integrationscenter für Arbeit (AGE), da weder der Vater noch die Mutter eine Arbeitsstelle besaßen. Die Familie wohnte als alleinige Mietpartei in einem Mehrfamilienhaus. Alle anderen Mieter waren wohlirgendwann ausgezogen. Die Hauseingangstür stand offen, das Türschloss war offensichtlich defekt. Im Hausflur waren alle Briefkästen beschädigt und hingen halb geöffnet an der Wand. Insgesamt eine alles andere als heimelige Atmosphäre, die meiner Kollegin und mir ein wenig gespenstisch vorkam.
    Bakers Mutter öffnete die Wohnungstür und geleitete uns über die abgedunkelte Küche in das Wohnzimmer. Dort waren die Fensterscheiben zum Teil zerbrochen. Zum Schutz vor Wind, Regen und Kälte waren Bettdecken davorgenagelt. Die Einrichtung war sehr schlicht, aber sauber. Die tiefreligiöse Ausrichtung der Familie wurde an den vielen Suren, die in vergoldeten Rahmen hingen, erkennbar. Die überdimensionalen Mekkamotive (der Kaaba) und die Abbildungen des Propheten Mohammed dienten keineswegs nur der Dekoration. Zu einer Begegnung mit Bakers Vater kam es nicht – er war nicht anwesend. Die Mutter hörte sich fast wortlos unsere Erlebnisse mit ihrem Sohn an. Mit einer konstruktiven Kooperation des Elternhauses konnte also nicht gerechnet werden. Ich war auf mich allein gestellt und beschloss, im Sinne des Kindes die Probleme zumindest ansatzweise schulisch zu lösen.

    Auch wenn Baker tagtäglich viele Schwierigkeiten bereitete, hatte er durchaus liebenswürdige Seiten. Aufräumarbeiten in der Klasse übernahm er stets gern. Ging uns beispielsweise der Kleber aus, erledigte er sehr zuverlässig kleine Botengänge in benachbarte Geschäfte. Regelmäßig half er mir, Unterrichtsmaterialien in oder aus meinem Auto in die Klasse zu befördern. Doch so nett er auch sein konnte, so unberechenbar war er.
    Ich entwickelte für Baker ein Verstärkersystem. Bei diesem Prinzip vereinbarten wir beide im Vorfeld ein gemeinsames Ziel wie z.B. die Teilnahme an einem Schlittschuhlauf mit der Klasse. Jeder Tag, an dem Baker keinen gravierenden Blödsinnveranstaltete, wurde als positiv bewertet. Das positive Verhalten wurde mit ihm besprochen und er bekam für diesen Tag einen Sticker aufgeklebt. Entsprach das Verhalten ganz und gar nicht den Klassen- und Schulregeln, wurde dies ebenfalls besprochen und er bekam für diesen Tag keinen Sticker. Neben der Tafel hing gut sichtbar ein großes Plakat. Dort konnte er bei dem jeweiligen Datum seine Aufkleber anbringen und sammeln. Hatte er genügend beisammen, durfte er an der nächsten Klassenaktivität teilnehmen; fehlten ihm Aufkleber, wurde er ausgeschlossen. Nach jedem Schultag entschieden wir gemeinsam, ob er einen Aufkleber für den jeweiligen Tag bekam oder nicht. Trotz großzügiger Handhabung erreichte er nicht allzu oft die benötigte Punktzahl. Dabei versuchte ich immer wieder, ihm klarzumachen, dass wir jeden Tag bei Null anfingen und er jeden Tag eine neue Chance bekäme.

    Eines Tages hörte ich von einer Kollegin, dass Bakers jüngerer Bruder Ali nach schweren Misshandlungen von zu Hause weggelaufen wäre. Er hatte sich in das örtliche Kinderheim geflüchtet und war nun in einer anonymen Notunterkunft untergebracht.

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