Doener, Machos und Migranten
Bürger nicht mit den offiziellen Dokumenten überein. Manchmal werden sie unabsichtlich falsch eingetragen (aufgrund einer bei türkischen Beamten weit verbreiteten Gleichgültigkeit), manchmal helfen kleine Zuwendungen beim Amt, um das gewünschte Alter eingetragen zu bekommen.
Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Selbst in meinem Geburtspass stimmt das Geburtsdatum nicht mit dem wirklichen überein. Laut Pass bin ich fünf Tage später geboren. Die Dame im Krankenhaus hatte den Entlassungstermin als Geburtsdatum eingetragen. Als meinen Eltern der Fehler zu Hause auffiel, hätte es sie sehr viel bürokratische Mühe und Geld gekostet, diesen falschen Eintrag korrigieren zu lassen.
Aufgrund ihrer körperlichen Entwicklung und dentypischen pubertären Unreinheiten im Gesicht wirkte Demet auf mich wie ein 13 oder gar 14 Jahre alter Teenager. Nach eigener Auskunft war sie tatsächlich drei Jahre älter als aus ihren Unterlagen hervorging. Vor uns stand ein Mädchen mit sehr dicken schwarzen Haaren, die sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Obwohl sie zunächst nicht viel sprach und sehr zurückhaltend war, wirkte sie verspielt und fröhlich. Immer wenn ich sie ansprach, antwortete sie mit gesenktem Blick, aber mit einem Lachen. Beim Antworten hielt sie sich ständig die Hände vor das Gesicht. Gekleidet war sie mit einem langen weiten Rock, der ihr bis zu den Knöcheln ging. Dazu trug sie ein bunt gedrucktes T-Shirt. Da sie barfuß lief, konnte man leicht erkennen, dass sie noch vor kurzem in einer anderen Welt zu Hause gewesen war.
Wir hatten unseren Besuch angekündigt, so dass Demets Familie wusste, warum wir gekommen waren. Demet erzählte uns, dass sie bereits in der Zeit, als mit verschiedenen Tests die richtige Schulform für sie gefunden werden sollte, von ihren Mitschülern gehänselt worden sei. Sie hätten ihr gesagt, dass nur verrückte Kinder auf eine Förderschule gehen würden. Demet hatte Angst vor einer sozialen Stigmatisierung. Diese Denkweise konnte ich nur allzu gut nachvollziehen. Viele unserer Schüler leiden darunter, dass ihr soziales Umfeld nicht gerade positiv auf Förderschüler reagiert.
Im Gespräch versuchte ich, ihr einige Vorteile der Schule zu verdeutlichen – allen voran die kleineren Lerngruppen und die damit verbundene erhöhte Zuwendungsmöglichkeit des Lehrers. Ich erklärte ihr, dass sie bei entsprechenden Leistungen jederzeit an die Hauptschule zurückkehren könne. Da sie schon einige schulische Misserfolge hinter sich hatte, versicherte ich ihr, dass sich das in ihrer zukünftigen Klasse in der von ihr erlebten Form nicht wiederholen würde. Ich bot ihr an,einmal in meinen Unterricht zu kommen, um sich dort selbst einmal ein Bild von «den verrückten Schülern und der verrückten Lehrerin» zu machen. Ich benutzte absichtlich diese Begriffe und löste damit ein Lachen bei Demet aus, die mir versprach, in den nächsten Tagen zur Schule zu kommen.
Sie hielt ihr Versprechen und erschien in der darauf folgenden Woche – allerdings nicht nur zur Hospitation, sondern als Schülerin meiner Klasse. Sie hatte sich alles noch einmal überlegt und beschlossen, regelmäßig zum Unterricht zu kommen. Nach einer anfänglichen Phase der Schüchternheit traute sie sich immer mehr, ihr wahres Wesen zu zeigen. Demet war ein fröhliches, hilfsbereites und sehr zuverlässiges Mädchen. Sie konnte über jede Kleinigkeit laut und herzlich lachen. Wenn z.B. ein Mitschüler einen anderen einfach nur nach nachäffte, schüttelte sie sich vor Lachen.
Demet fand schnell Anschluss bei ihren türkischen Mitschülern, mit denen sie sich außerhalb des Unterrichts lebhaft auf Türkisch unterhielt. Leider antwortete sie auf meine Fragen im Unterricht ebenfalls nur auf Türkisch. Ich ließ sie zunächst gewähren, da ich glücklich darüber war, dass sie Deutsch nach einer gewissen Zeit überhaupt verstand. Ihre Deutschkenntnisse konnte sie trotz Einzelförderunterricht nicht so schnell erweitern, wie gewünscht. Hier machten sich ihre Lernschwierigkeiten deutlich bemerkbar. Sie lernte nur sehr, sehr langsam.
Eines Tages fragte mich Demet völlig zusammenhanglos, ob ich Probleme damit hätte, dass sie Kurdin wäre? Auch wenn mir die Frage zunächst merkwürdig erschien, stellte Demet sie vor einem berechtigten Hintergrund und zeigte, dass der Konflikt mit den Türken die Kurden auch weit über die Türkei hinaus beschäftigte. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: «Hast du ein Problem
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