Doener, Machos und Migranten
sondern auch Lernschwierigkeiten in anderen Bereichen. Die Kollegen der Grundschule stellten daher einen Antrag zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und informierten die Eltern. Nachdem feststand, dass Demet nach den Sommerferien zu einer Förderschule wechseln sollte, wurde sie bereits fortan durch ihr Umfeld gehänselt.
Demet ist das vierte Kind einer sechsköpfigen kurdischen Familie. Alle ihre Geschwister besuchten und besuchen Regelschulen. Weder die Eltern noch ihre ältere Schwester, zu der sie immer ein besonders gutes Verhältnis hatte, konnten sie zu einem Schulbesuch bewegen. Ein Familienmitglied rief in der Schule an und informierte uns über die Sachlage. Für mich bedeutete das, zwei Wochen nach Beginn des Schuljahres meinen allerersten Hausbesuch als Klassenlehrerin durchzuführen. Freundlicherweise bot mein Schulleiter an, mich zu begleiten.
Demets Familie hatte lange Jahre getrennt gelebt, da der Vater bereits 1992 als Asylbewerber nach Deutschland eingereist war, während seine Angehörigen in der Heimat blieben. Nach sieben Jahren wurde das Bewerbungsverfahren zugunsten des Vaters abgeschlossen und er durfte seine Frau und Kinder im Rahmen der Familienzusammenführung nachholen. Die Familie lebte in einer großen Wohnung an einer stark befahrenen Straße im Gelsenkirchener Stadtteil Rotthausen.
Als wir dort eintrafen, begrüßte uns der Vater zunächst sehr herzlich und bat uns ins Wohnzimmer. Zur Verwunderung meines Schulleiters zog ich direkt in der Dielemeine Schuhe aus. In orientalischen Gesellschaften betritt man aus hygienischen Gründen die Wohnräume nicht mit Straßenschuhen. Reinlichkeit ist ein großes Gebot der Moslems. Nachdem ich ihm dies kurz erklärt hatte, zog er seine Schuhe ebenfalls aus.
An der Wohnzimmerwand hing ein großes gerahmtes Foto Abdullah Öcalans. Öcalan ist Führer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die für einen unabhängigen kurdischen Staat kämpft und dabei vor Waffengewalt nicht zurückschreckt. Wie kaum eine andere Person der jüngeren türkischen Geschichte spaltet Öcalan die türkische Bevölkerung – die einen verehren ihn hingebungsvoll, die anderen hassen und bekämpfen ihn mit allen Mitteln: Für seine kurdischen Anhänger ist er Held und Freiheitskämpfer, für die türkischen Behörden Terrorist und Mörder. 1999 wurde er verhaftet und vom Staatsgerichtshof der Türkei zum Tode verurteilt. Nach Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten wurde Öcalans Urteil 2002 in lebenslange Haft umgewandelt. Nach wie vor ist vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen den Prozess in der Türkei anhängig.
Demets Vater sprach kaum Deutsch und so musste ich ständig zwischen ihm und meinem Schulleiter übersetzen. Sein Türkisch war von einem starken kurdischen Akzent geprägt. Mein erster Gedanke war: «Oh, hoffentlich machen sie (als Kurden) nicht mich (als Türkin) für die Dinge verantwortlich, die ihnen eventuell widerfahren sind», denn nach wie vor sind die Kurden in der Türkei vielfältigen Benachteiligungen und sogar Verfolgungen ausgesetzt. Doch meine Befürchtungen sollten sich in keiner Weise bestätigen. Alle Familienmitglieder Demets, die ich im Laufe der Jahre kennen gelernt habe, begegneten mir äußerst offen und warmherzig.
Demets Vater erzählte uns von der Dorfschule in seinemHeimatort Bulanik im Nordosten der Türkei. Dort war Demet vor ihrer Einreise nach Deutschland nur ein Jahr zur Schule gegangen. Allerdings konnte von einem kontinuierlichen Schulbesuch nicht die Rede sein. Zwar besteht auch in der Türkei eine Schulpflicht, doch gerade in ländlichen Regionen fehlen rechtliche Möglichkeiten, um einen Schulbesuch durchzusetzen, wenn Kinder aus unterschiedlichen Gründen dem Unterricht fern bleiben.
Wir unterrichteten Demets Vater über die bestehende Schulpflicht in Deutschland und die möglichen Konsequenzen bei einer Weigerung der Eltern, die Tochter zur Schule zu schicken. Der Vater wusste davon und erzählte von der Abwehrhaltung seiner Tochter. Er wollte nur das Beste für seine Kinder und bat uns, direkt mit Demet zu sprechen.
Das Mädchen hatte sich in ihr Zimmer verkrochen und es kostete den Vater sehr viel Mühe, sie zu überreden, zu uns ins Wohnzimmer zu kommen. Als sie nun schüchtern im Türrahmen stand, schoss mir als Erstes in Kopf, dass dieses Mädchen auf keinen Fall elf Jahre alt sein konnte. Sie wirkte weitaus älter. Häufig stimmen die Geburtsdaten türkischer
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