Doener, Machos und Migranten
erschwerten. In einem unserer zahlreichen Gespräche berichtete mir Hivda von nächtlichen Hausdurchsuchungen, die das Militär nach derlei Veröffentlichungen bei ihrer Familie vorgenommen hatte. Mehrmals in einer Woche war die Familie nachts geweckt worden und hatte sichschlaftrunken vor dem Haus aufstellen müssen. Da die Soldaten vermutlich nicht genau wussten, wonach sie suchen mussten, hinterließen sie jedes Mal ein Chaos. Des Öfteren wurde Hivdas Vater von Soldaten abgeholt und ins Gefängnis gebracht, um ihn Verhören zu unterziehen, da man ihn allein aufgrund seiner beschreibenden, letztlich aber regimekritischen Artikel der Unterstützung der PKK verdächtigte. Bis heute ist es in der Türkei nicht ungefährlich, von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen – und das gilt längst nicht nur für die Kurdengebiete. Das bekannteste Opfer staatlicher Repressalien ist wohl der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Aufgrund von Interviewäußerungen zu den dunklen Seiten der türkischen Geschichte wurde er wegen «Beleidigung des Türkentums» (Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches) angeklagt. Das Verfahren wurde erfreulicherweise jedoch im Januar 2006 eingestellt.
Hivdas Familie war sehr lange Zeit getrennt und lebt inzwischen seit acht Jahren in Gelsenkirchen-Ückendorf. Dem Vater war es gelungen, über verschlungene Wege nach Deutschland einzureisen. Hier lebte er zunächst in einem Asylbewerberheim. Nach der Anerkennung seines Asylantrags konnte er erst Jahre später im Zuge der Familienzusammenführung seine Frau und seine fünf Kinder zu sich nach Deutschland holen. Hivdas älteste Schwester war bereits im Alter von 18 Jahren mit einem Kurden verheiratet worden. Die junge Familie lebt mit ihren beiden Kindern in Herne. Die anderen Geschwister von Hivda besuchen entweder die Regelschule oder gehen noch in den Kindergarten.
Der Stadtteil Ückendorf wird zu großen Teilen von Familien mit Migrantenhintergrund bewohnt. Am Beispiel der Gesamtschule Ückendorf wird dies besonders deutlich. Sie weist einenAusländeranteil von über 80 Prozent auf. Im Rahmen einiger AO-SF-Verfahren habe ich dort Klassen kennen gelernt, in denen ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund saßen. Diese Gesamtschule ist das Pendant zu den vieldiskutierten «Gettoschulen» in Berlin-Neukölln. Die schulischen Lernanforderungen einiger mir bekannten Klassen sind kaum höher als die in unserer Förderschule.
Nach zwei wenig erfolgreichen Schuljahren leitete die Grundschule ein AO-SF-Verfahren für Hivda ein. Das Mädchen hatte in fast allen Unterrichtsfächern Lernschwierigkeiten. Nach Abschluss des Verfahrens wechselte sie in meine vierte Klasse. Zu diesem Zeitpunkt sprach sie kaum deutsch.
Hivda war zunächst ein sehr zurückhaltendes Mädchen. Obwohl sie nicht aktiv am Unterricht teilnahm, beobachtete sie alles, was um sie herum geschah, genau. Nach ein paar Wochen taute sie etwas auf und traute sich manchmal, etwas im Gesprächskreis zu erzählen. Aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten benötigte sie dabei Unterstützung mittels Fragen. Wenn sie etwas nicht ausdrücken konnte, erzählte sie es schnell auf Türkisch. Ihre türkisch sprechenden Klassenkameraden halfen ihr dann bei der Übersetzung.
Hivda war sehr wohl bewusst, dass sie versuchen musste, im Unterricht deutsch zu sprechen. Dennoch musste von schulischer Seite aus die besondere Situation der Zweisprachigkeit (in ihrem Fall sogar der Dreisprachigkeit) berücksichtigt werden. Eine abrupte Unterbrechung ihrer Primärsprache – sprich: das Verbot, sie im Unterricht zu verwenden – hätte das Risiko in sich getragen, dass Hivda nicht mehr gesprochen hätte, weil sie viel zu unsicher war. Die Suche nach der passenden Übersetzung bedeutete einen Lernprozess, von dem sowohl Hivda als auch ihre türkisch sprechenden Klassenkameraden profitierten. Da ich selbst ja auch türkisch spreche,konnte ich das Gespräch lenken, sobald sie vom Thema abwichen.
Hivdas Vater war sehr an der schulischen Entwicklung seiner Tochter interessiert. Er erschien zu allen Elternsprechtagen und war dabei stets äußerst pünktlich. Wenn ich ihm vom Lernzuwachs seiner Tochter erzählte, strahlte er mich an. Ganz gleich, um was ich ihn bat, sei es die Einverständniserklärung, dass Hivda an einer mehrtägigen Klassenfahrt teilnehmen durfte oder dass sie in der Schulmannschaft mit Fußball spielen durfte, stets war er einverstanden. Für mich
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