Dogma
Mit Tränen in den Augen, aber trotzig, sah sie ihn an. An ihrer Wange zeichnete sich rot der Abdruck seiner Hand ab, jeder Finger war einzeln zu erkennen.
«Lüg mich nicht noch einmal an», sagte er. «Verstanden?»
Sie reagierte nicht. Er hob drohend die Hand, bereit, erneut zuzuschlagen. Tess wich nicht zurück, doch diesmal deutete sie ein Nicken an.
Zahed hob die andere Hand, in der er einen breiten Gewebegürtel hielt.
Er zeigte ihn Tess. «Ich muss dir das hier umschnallen.»
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Kapitel Vierunddreißig
Reilly lief, so schnell ihn seine müden Beine trugen. Jetzt, nachdem er den steilen, holperigen Pfad vom Berg herab bewältigt hatte und sein Weg über ebeneres Gelände führte, kam er etwas besser voran. Trotzdem konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Die nächste Ortschaft, eine kleine Ansammlung von Häusern am Fuß des Vulkans, war noch immer fast einen Kilometer entfernt. Er musste irgendein Fortbewegungsmittel auftreiben, das ihm erlaubte, sich zu schonen, bevor sein überstrapazierter Körper ihm gänzlich den Dienst versagte. Und er musste schnell etwas finden.
Die Drohne war längst abgezogen, das wusste er. Jetzt zählte jede Minute.
Als er einen niedrigen Hügelkamm überwunden hatte, nahm er ein paar hundert Meter vor sich eine Bewegung wahr. Da war ein Reiter. Der Anblick mobilisierte seine Kraftreserven. Beim Näherkommen erkannte Reilly einen alten Mann, der auf einem dürren Klepper saß. Das magere Tier war mit zwei großen Strohkörben beladen und trottete träge daher, ohne sich an den Fliegenschwärmen zu stören, die es umschwirrten.
Reilly lief schneller, rief «Hey» und winkte hektisch mit den Armen. Er sah, wie der alte Mann gelassen den Kopf wandte, ohne sein Tier zu bremsen. «Hey», schrie Reilly wieder, dann noch einmal, und diesmal zog der Mann die Zügel an. Das Pferd blieb stehen.
«Ihr Pferd», stieß Reilly atemlos und heftig gestikulierend hervor. Der Einheimische sah ihn verwirrt an. «Ich brauche Ihr Pferd.»
Plötzlich nahm das runzelige Gesicht des Mannes einen angespannten Ausdruck an – sein Blick war auf die Waffe in Reillys Gürtel gefallen. Aber statt ängstlich oder gar panisch zu reagieren, schrie er Reilly an, offenbar um ihn für die Beleidigung zu schelten. Jung oder alt, stark oder gebrechlich, die Männer, mit denen Reilly es zu tun bekam, schienen nicht leicht einzuschüchtern zu sein. Reilly schüttelte den Kopf und breitete beschwichtigend die Arme aus, um den aufgebrachten Alten zu beruhigen.
«Bitte, hören Sie mir zu. Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich brauche Ihre Hilfe, okay? Ich brauche Ihr Pferd», erklärte er, begleitet von allerlei Gesten, von denen er fand, sie würden Demut und Respekt ausdrücken.
Der Mann beäugte ihn noch immer voller Misstrauen, aber allmählich beruhigte er sich ein wenig.
Reilly fiel etwas ein, und er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog seine Brieftasche hervor.
«Hier», sagte er zu dem alten Mann und nahm alles Bargeld heraus, das er bei sich hatte. Viel war es nicht, aber wahrscheinlich immer noch mehr, als die lahme alte Mähre wert war. Er hielt dem Mann das Geld hin. «Bitte. Nehmen Sie. Kommen Sie schon, Sie wollen doch nicht, dass ich die Pistole gebrauche.» Ihm war klar, dass der Mann den letzten Satz nicht verstehen würde.
Der Alte musterte ihn einen Moment lang forschend, dann brabbelte er etwas vor sich hin und gab nach. Erstaunlich behände stieg er vom Pferd und gab Reilly die Zügel.
Reilly lächelte ihn dankbar an, woraufhin der Ausdruck des alten Mannes weicher wurde. Reilly öffnete die Körbe. Sie waren mit Weintrauben gefüllt.
«Hier, behalt die», sagte er, löste die Riemen und half dem alten Mann, die Körbe an den Straßenrand zu stellen. Dann setzte er sich auf die zerschlissenen Decken, die anstelle eines Sattels auf dem Pferderücken lagen, zog Tess’ Karte hervor und studierte sie.
Er dachte daran, den alten Mann nach dem Weg zu fragen, aber ihm war klar, dass es auf dem Berg bald von Männern der Jandarma wimmeln würde, die zur Verstärkung geschickt worden waren. Lieber keine Spuren hinterlassen. Stattdessen orientierte er sich am Stand der Sonne. Der Weg zum Zielgebiet, dem sogenannten Ihlara-Tal, den Tess eingezeichnet hatte, war ein Umweg. Sicher wählte der Bomber diese Route. Es gab auch eine direktere, die quasi in Luftlinie durch offenes Gelände führte, wesentlich kürzer war und wo es anscheinend keine größeren
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