Dogma
der Byzantinist annahm, dass sich dort die Gräber der Templer befanden.
Die Schlucht, mal enger, mal weiter werdend, verlief gewunden in Richtung Süden. Zu beiden Seiten ragten Steilwände mehr als siebzig Meter hoch auf, eine beeindruckende Kulisse aus weichem, ausgeblichenem Stein, den die Flüsse früherer Zeiten aus der Erde gewaschen hatten. Der Grund der Schlucht war zu dieser Jahreszeit trocken und staubig, aber da und dort lockerte ein Dickicht aus grünen Büschen oder eine Gruppe Pappeln oder Weiden das schroffe Bild auf.
«Diese Tal waren nicht bewohnt wie die weiter im Norden», erklärte Abdülkerim. Dafür, dass es nicht seine Muttersprache war, sprach er fließend Englisch; allerdings benutzte er oft – und ohne erkennbares System – die Einzahl statt der Mehrzahl. «Sie sind zu weit im Süden, zu nahe an den Bergpässen, über die muslimische Räuberbande kommen. Hier finden Sie nicht viele Felsenkirchen oder unterirdische Stadt – darum kommen auch nicht viel Tourist hierher. Sie gehen alle nach Goreme und Zelve, und die sind auch viel spektakuläreres Bild.»
«Davon haben wir gehört», sagte Zahed und ließ den Blick über die herrliche, raue Landschaft schweifen. «Aber wenn die Templer an die Küste gelangen wollten, ohne von Ghazi-Banden bemerkt zu werden, wäre es für sie doch sinnvoll gewesen, sich an diese Schluchten zu halten?»
«Unbedingt. Manche von diese Schlucht sind mehr als fünfzehn Kilometer lang. Das ist viele Meile wunderbare Deckung – allerdings ist auch wunderbare Gelegenheit für Hinterhalt.»
Sie teilten sich auf. Zahed mit Tess auf der einen Seite, Abdülkerim auf der anderen, suchten sie Schritt für Schritt die Ränder der Schlucht ab, die Steilwände, und hielten nach den Markierungen Ausschau, von denen in den Aufzeichnungen des Inquisitors die Rede war. Inzwischen brannte die Sonne heiß auf sie herunter, jeder Schritt wurde mühsam. Hin und wieder wechselten sie die Seiten, damit jeder mal im Schatten war – sofern es überhaupt Schatten gab –, aber auch dort war man kaum vor der Hitze geschützt.
Nach ein paar Stunden sank die Sonne so tief, dass der gesamte Grund der Schlucht im Schatten lag, und sie kamen leichter voran. Auf den nächsten zwei oder drei Kilometern kamen sie an ein paar kleinen Felsenkapellen vorbei, einzelnen engen Räumen, die vor Jahrhunderten aus dem weichen vulkanischen Tuffgestein geschlagen worden waren und deren einfache Fresken, direkt auf Wände und Decke gemalt, fast bis zur Unkenntlichkeit verblasst waren. Sonst entdeckten sie nichts Nennenswertes. Bis der Byzantinist nach Zahed und Tess rief.
«Hier drüben», hallte seine Stimme durch die Schlucht.
Die beiden eilten zu ihm.
Abdülkerim stand gebückt, starrte angestrengt auf den Fuß der Klippe und wischte behutsam mit dem Handschuh über den Fels. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte – doch dann wurde es deutlicher: schwache Linien, die in den weichen Fels geritzt und durch die Jahrhunderte fast ausgelöscht worden waren.
Das Zeichen, das Abdülkerim frei legte, maß etwa fünfundzwanzig Zentimeter im Quadrat und war, wenn auch nur grob ins Gestein geschnitten, doch klar als Kreuz erkennbar. Das war für sich genommen nichts Besonderes, schließlich hatten im ersten Jahrtausend der Religion viele Christen in dieser Gegend gesiedelt, weshalb überall im Land unzählige Kreuzzeichen zu finden waren. Aber die Stelle war ungewöhnlich – am Fuß der Klippe, weitab von jeder Felsenkirche – und auch die Form. Das hier war nicht einfach irgendein Kreuz. Die Arme wurden nach außen hin breiter, ein unverkennbares Merkmal des Tatzenkreuzes, das im Lauf der Geschichte von verschiedenen Gruppierungen benutzt worden war – unter anderem von den Templern.
«Das könnte es sein», stellte der Historiker sichtlich aufgeregt fest. Als er den Fels um das Kreuz herum und darunter abwischte, kamen weitere Linien zum Vorschein, zunächst kaum erkennbar, doch mit jedem Strich des Handschuhs deutlicher.
Es waren Schriftzeichen. Nicht kunstvoll, nicht das Werk eines Handwerksmeisters. Sie sahen aus, als seien sie mit den Werkzeugen, die eben zur Hand waren, hastig eingeritzt worden. Dennoch waren sie lesbar.
Tess trat neben den Historiker und beugte sich hinunter, den Blick gebannt auf den Felsen gerichtet. Ein erwartungsvoller Schauder überlief sie, als die Buchstaben Gestalt annahmen. Und als sie die Worte
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