Dogma
lassen, nur um Reillys Zielperson zu verfolgen. Und auch wenn ihn alle unterstützten, würde es einige Zeit dauern, eine neue Drohne umzuprogrammieren. Bis dahin würde der Discovery längst verschwunden sein. Mit Tess.
Daran durfte er gar nicht denken.
Nicht jetzt, da ein endloser, mühseliger Abstieg im fast noch Dunkeln vor ihm lag. Über einen felsigen Pfad und auf Beinen, die ihn kaum noch tragen konnten.
Er brauchte zwanzig Minuten bis zu der Lichtung, wo sie Tess zurückgelassen hatten. Am Himmel hinter dem Berg zog der erste Schimmer von Tageslicht herauf und tauchte die Landschaft in einen sanften goldenen Schein. Doch der Anblick, der Reilly erwartete, stand in krassem Gegensatz zu einer Morgenidylle. Drei tote Paramilitärs. Drei unbrauchbar gemachte Fahrzeuge. Und keine Spur von Tess.
Er lehnte sich gegen den Humvee, wo er sie zuletzt hatte stehen sehen, und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Inzwischen hatten die türkischen Befehlshaber sicher bereits Verstärkung losgeschickt, aber bis die eintraf, würde noch einige Zeit vergehen. Er musste jetzt entscheiden, was zu tun war. Wenn er blieb, um auf sie zu warten, würde er wahrscheinlich in ein Tauziehen um Zuständigkeiten geraten und an den Rand gedrängt werden. Die Türken würden von dem vorgefallenen Massaker nicht erbaut sein, und sie würden vielleicht nicht dulden, dass sich ein Ausländer in ihre Jagd nach dem Täter einmischte. Hinzu kam die Sprachbarriere. Bis er die nötigen Beziehungen aktiviert hatte, um im Rennen zu bleiben, wäre kostbare Zeit verloren.
Was jedoch das Wichtigste war: Es würde keineswegs oberste Priorität des türkischen Militärs sein, Tess unversehrt zu befreien. Diese Leute würden alles daransetzen, den Attentäter zur Strecke zu bringen. Das würde für sie um Längen mehr zählen als Tess’ Sicherheit. Wenn sie die Gelegenheit hätten, den Mann zu stellen, dafür aber Tess opfern müssten, dann würden sie sie nicht als unverzichtbar einstufen, da machte Reilly sich keine Illusionen. Verdammt, sie würden auch
ihn
opfern. Er wiederum hatte sich nicht gerade um Simmons’ Sicherheit verdient gemacht. Nein, wenn es darum ging, Tess zu retten, durfte er sich nicht auf andere verlassen.
Er musste weiter, allein. Den Truppen einen Schritt voraus. Am Puls des Geschehens.
Sie durften ihm gern folgen und mitmischen. Er würde sogar selbst Verstärkung anfordern – sobald
sie
außer Gefahr war.
Er fand den Rucksack, den er in dem Humvee zurückgelassen hatte, und setzte ihn sich auf. Darin befanden sich noch immer sein BlackBerry und seine Brieftasche. Etwas auf dem Sitz daneben fiel ihm ins Auge: eine hastig zusammengefaltete Landkarte und eine Taschenlampe. Er erkannte die Karte. Als er sich hier von Tess trennte, hatte sie gerade versucht, die Reise des Inquisitors darauf zu rekonstruieren, da sie ja jetzt wussten, wo sich das Kloster befand.
Reilly faltete die Karte auseinander. Wie erwartet, war darauf die ungefähre Lage des Klosters markiert, ausgehend vom Standort der beiden Geländewagen und vorausgesetzt, dass Simmons und sein Entführer es tatsächlich gefunden hatten. Dann hatte sie mögliche Reiserouten eingezeichnet, neben die sie Notizen gekritzelt hatte. Die Höhenlinien auf der Karte hatten ihr geholfen, die Beschreibungen des Inquisitors nachzuvollziehen. An manchen Stellen teilte sich die Route in mehrere Zweige, andere hatte Tess mit Fragezeichen versehen. Eine Route jedoch war deutlich kräftiger eingezeichnet. Offenbar war sie der Meinung gewesen, dies sei die richtige.
Reilly betrachtete die Karte einen Moment lang eingehend, dann faltete er sie zusammen.
«Kluges Mädchen», sagte er leise vor sich hin. Sein abgefallener Adrenalinspiegel war soeben wieder ein wenig gestiegen.
Er durchsuchte die Fahrzeuge, nahm eine Feldflasche voll Wasser mit, einen starken Feldstecher, eine Pistole und drei volle Magazine und steckte alles in seinen Rucksack. Dann machte er sich wieder auf den Weg.
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Kapitel Dreiunddreißig
Tess saß schweigend auf dem Beifahrersitz, vor Grauen wie gelähmt, während der Discovery durch das verschlafene Städtchen fuhr. Die Straßen waren zu dieser frühen Stunde nahezu menschenleer. Da und dort gab es Lebenszeichen, ein alter Mann zockelte mit einem klapprigen Pferdewagen am Straßenrand entlang, ein anderer Mann ging mit seinem Sohn durch einen Weinberg, aber Tess nahm es kaum wahr. Sie quälte die Frage, was genau sich oben am Berg
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