Dogma
Verfolger. Schlimmer noch, sie war die Beute. Sie musste sich lautlos bewegen, den Raum erkunden. Er brauchte nichts weiter zu tun, als den Geräuschen zu folgen, die sie verursachte, und in der Totenstille der unterirdischen Zitadelle wurde schon der winzigste Laut um ein Vielfaches verstärkt. Tess kam sich so unauffällig vor wie die Trommler einer Marschkapelle.
Sie löste sich von der Wand mit der Verkabelung und schlich blindlings in die Dunkelheit hinein, die Arme vor sich ausgestreckt wie Insektenfühler, um etwaige Hindernisse zu ertasten. Nach ungefähr fünf Metern erreichte sie die gegenüberliegende Wand. Sie folgte ihr und strich im Gehen mit den Fingern an der glatten Fläche auf und ab, bis sie etwas entdeckte: Da war eine Nische in der Wand, etwa eins zwanzig breit, in der Höhe reichte sie von dicht über dem Boden bis zu ihrer Taille.
Tess wusste, dass es hier unten Räume für alle möglichen Zwecke gab, ehemalige Weinkeller, Küchen, Vorratskammern, die sämtlich in Wänden und im Boden mit Nischen und Höhlungen unterschiedlicher Größe versehen waren. Ehe sie darüber nachdenken konnte, wozu diese hier gedient haben mochte, hörte sie ihn näher kommen und erstarrte.
Sie konnte nicht riskieren weiterzugehen, nicht, wenn er so dicht bei ihr war. Ihr blieb keine Wahl. Sie bückte sich und kroch hinein, so weit es ging. Die Aushöhlung war nur knapp einen halben Meter tief.
Dann wartete Tess.
Sie war kaum in die Nische geschlüpft, da klang das leise Geräusch seiner Schritte plötzlich weniger gedämpft. Er hatte den Raum betreten. Mit wild klopfendem Herzen drückte sie sich gegen die Rückwand.
Sie hörte, wie er sich an der gegenüberliegenden Wand des Raumes entlangtastete.
So weit, so gut. Geh weiter.
Er blieb stehen.
Tess hielt den Atem an.
Eine Ewigkeit, wie es ihr schien, verursachte er keinerlei Geräusch. Tess stellte sich vor, wie er dastand, nur wenige Schritte von ihr entfernt, und angespannt lauschte, wie ein Panther in der Dunkelheit. Sie fühlte Gänsehaut am ganzen Körper. Sie machte sich so klein, wie sie nur konnte, und unterdrückte den verzweifelten Drang, tief zu atmen. In äußerster Anspannung erwartete sie den nächsten Schock – einen Ruf, einen Schuss, irgendetwas, das sie so erschrecken würde, dass sie sich erneut verriet.
Da kam es.
«Ich weiß, dass du da bist, Tess. Ich höre dich atmen.»
Ihr stockte das Herz. Wieder und wieder sagte sie sich, was immer als Nächstes käme, sie dürfe auf keinen Fall reagieren. Sie konzentrierte sich angestrengt auf ihr Gehör, versuchte, ihre Ohren als Echolot zu benutzen.
Sie hörte ein leises Scharren. Dann noch einmal.
Er bewegte sich.
Langsam.
Geradewegs auf sie zu.
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Kapitel Fünfundvierzig
Tess fühlte, wie alles Blut aus ihrem Körper in die Schläfen schoss.
Er war nur noch wenige Schritte entfernt. Und er kam näher.
Tess erstarrte, alle Muskeln aufs Äußerste angespannt. Sie hätte keinen Finger rühren können. Sie blinzelte nicht einmal. Ihre Kiefer bissen mit aller Kraft aufeinander. Jeden Augenblick rechnete sie damit, dass er sie wieder erschreckte. Sie durfte sich unter keinen Umständen noch einmal verraten.
Die Sekunden schienen sich zu Stunden zu dehnen. Er kam näher – sie konnte bereits seinen Atem hören. Er atmete nur sehr verhalten, wahrscheinlich durch den Mund, ebenso wie sie. Das war leiser, dennoch war es gerade noch hörbar. Es klang ein wenig heiser, mühsam – vielleicht von dem Zusammenprall mit der Säule. Sie hoffte es.
Ihr Grauen konnte das kaum mildern.
Jetzt fühlte sie ihn auch. Obwohl sie einander nicht berührten, spürte sie seine Gegenwart doch genau. Es war, als besäße sie tatsächlich ein inneres Echolot, das ihn geortet hatte. Sie hörte, wie seine Finger die Wand über ihrer Nische berührten, ein kaum wahrnehmbares Scharren von Nägeln auf porösem Gestein. Er stand genau vor ihr, nur noch eine Handbreit entfernt, mit der Hüfte etwa auf Höhe ihres Kopfes, und betastete die Wand.
Ihr wild hämmerndes Herz drohte ihren Brustkorb zu sprengen, ihr Pulsschlag dröhnte ihr in den Ohren, so laut, dass sie glaubte, er müsse es hören können. Ihr war klar, wenn seine Hand noch ein wenig tiefer glitt, würde er die Nische entdecken – und sie.
Sie würde nicht warten, bis es so weit war.
Sie musste vorher handeln.
Blitzschnell sprang Tess ihren Verfolger aus ihrer Nische heraus an und warf sich mit aller Kraft gegen ihn. Die
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