Dogma
mochte keine Stadt im eigentlichen Sinne sein, aber sie war verwirrender als jede Großstadt: ein scheinbar endloser Kaninchenbau aus Kammern jeder Form und Größe, die durch niedrige Tunnel und schmale Stufen miteinander verbunden waren. Nirgendwo gab es auch nur einen rechten Winkel oder eine scharfe Kante. Sämtliche Ecken waren abgerundet, sämtliche Wände und Decken gewölbt, und alles hatte die gleiche monotone Farbe, ein kreidiges Grauweiß, überzogen mit der schmutzig braunen Patina der Zeit.
Und es war eng. Erdrückend, erstickend eng. Selbst die größeren Kammern, offenbar ehemalige Gemeinschaftsräume, verursachten Tess ein unerträgliches, klaustrophobisches Gefühl. Am schlimmsten waren jedoch die Tunnel und Treppen. Sie waren kaum breiter als ihre Schultern und so niedrig, dass Tess nur gebückt hindurchgehen konnte. Dahinter steckte Absicht: Sollte es feindlichen Invasoren doch gelingen, an den Mühlsteinen vorbeizukommen – die, an ein paar strategischen Stellen platziert, mittels eines kleinen Steins ins Rollen gebracht werden konnten, sodass sie die Zugänge zu dem unterirdischen Labyrinth versperrten –, dann konnten sie nur einzeln hintereinander und ohne ihre großen Schilde die Gänge passieren und waren viel leichter abzuwehren. Überhaupt war das gesamte unterirdische Höhlensystem als idealer Zufluchtsort angelegt: Es gab große Lagerräume für Nahrung und Tierfutter, Weinkeller, Brunnen für die Wasserversorgung und Belüftungsschächte. Alles war auf Verteidigung ausgelegt, selbst die Kamine der Feuerstellen verzweigten sich in viele kleine Schächte, ehe sie die Oberfläche erreichten, damit der Rauch sich verteilte und weniger leicht entdeckt wurde.
Während Tess immer weiter in die unterirdische Stadt vordrang, bemühte sie sich, den Gedanken beiseitezuschieben, dass die gesamte Schlucht über ihr wegen Einsturz- und Steinschlaggefahr gesperrt worden war. Stattdessen versuchte sie sich darauf zu konzentrieren, dass sie hier vor einer anderen Gefahr sicher war: Die Bombe an ihrem Körper konnte ihr hier unten nichts anhaben. Doch auch das konnte sie nicht wirklich beruhigen, denn an die Stelle ihrer bisherigen Ängste trat nun eine noch entsetzlichere: die Furcht, den Rückweg aus diesem Felsenlabyrinth nicht mehr zu finden und das Tageslicht nie wiederzusehen.
Nachdem sie ein paar Stufen hinabgestiegen war und nach rechts in einen besonders engen Gang abgebogen war, fand sie sich in einem größeren, luftigeren Raum wieder, in dessen Mitte drei grob aus dem Stein gehauene Säulen standen. Ein Stall vielleicht oder eine unterirdische Kirche? Im Grunde spielte es keine Rolle. Tess hielt inne, um Atem zu schöpfen und nachzudenken. Nach ihrer Einschätzung musste sie sich jetzt auf der zweiten oder dritten Ebene unter der Erde befinden, und sie wusste, dass es unter ihr womöglich noch viel tiefer hinabging. Doch sie wollte sich nicht allzu weit in die Tiefe wagen – die ganze Anlage war ein Labyrinth, und sie lief ernsthaft Gefahr, den Rückweg nicht mehr zu finden. Vorerst konnte sie aber auf keinen Fall an die Oberfläche zurückkehren. Nicht, solange sie nicht die Gewissheit hatte, dass der Iraner mit seinem Handy keine Gefahr mehr darstellte.
«Tess!»
Der Ruf des Iraners, der plötzlich durch die Höhlen hallte, ging ihr durch Mark und Bein.
«Ich will nur die Bücher», schrie er. «Gib sie mir, dann lass ich dich in Ruhe.»
Ihr war klar, was er bezweckte. Er wollte sie dazu verleiten, sich zu verraten, durch eine Bewegung, ein Geräusch, eine Erwiderung – irgendetwas, das ihm verriet, wo sie sich befand. Allerdings schien er gefährlich nahe zu sein. So nahe, dass sie jetzt ein Scharren an der Wand hören konnte. Es bewegte sich auf sie zu.
Zahed tastete sich an den Stromkabeln entlang, alle seine gut trainierten Sinne geschärft, damit ihm auch nicht das geringste Lebenszeichen entging.
Er sagte sich, dass Tess wahrscheinlich ebenfalls der Verkabelung folgte. Ihr Überlebensinstinkt musste ihr das gebieten. Wenn man den Kabeln nach unten folgte, konnte man ihnen auch wieder zurück folgen. Allerdings hatte sie ihm gegenüber einen Vorteil: die Taschenlampe. Er hatte mehrfach einen schwachen Widerschein des Lichtes gesehen, zwar jeweils nur für einen kurzen Augenblick, doch das hatte genügt, um ihn wie ein Leuchtfeuer zu leiten.
Er dachte daran, sich mit seinem Handy zu leuchten, und probierte es aus. Doch die schwache Display-Beleuchtung nützte ihm
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