Dogma
noch halblaute Flüche und die Schritte des Iraners, die sich entfernten, bis nichts mehr blieb als erdrückende Stille.
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Kapitel Sechsundvierzig
«Was ist mit Maulwürfen? Hier unten gibt es doch keine Maulwürfe, oder?»
«Maulwürfe?»
«Du weißt schon», plapperte Tess weiter. Es fiel ihr schwer, zusätzlich zu der bedrückenden Finsternis auch noch die Stille zu ertragen. «Maulwürfe. Oder sonst irgendein fieses Kleingetier mit langen Zähnen und Krallen.» Sie schwieg einen Moment lang, dann redete sie weiter: «Oder Fledermäuse? Meinst du, hier gibt es Fledermäuse? Transsilvanien ist nicht allzu weit von hier. Womöglich gibt es hier draußen Vampirfledermäuse. Was meinst du?»
«Tess, hör mir zu», erwiderte Reilly ruhig. «Wenn du den Verstand verlierst, muss ich dich erschießen. Ist dir das klar?»
Tess lachte. Nicht, weil sie seine Bemerkung besonders komisch gefunden hätte, sondern eher aus Angst und einem Anflug von Hysterie. Der Ernst der Lage, in der sie sich befanden – in einem verlassenen unterirdischen Labyrinth, mehrere Stockwerke tief unter der Erde eingeschlossen –, zerrte an ihren Nerven. Sie neigte im Allgemeinen nicht dazu, in Panik zu verfallen, darauf war sie stolz. Sie hatte schon einige Katastrophensituationen überstanden und sich tapfer geschlagen. Ihr Überlebensinstinkt und der eine und andere Adrenalinstoß waren ihr zu Hilfe gekommen.
Aber das hier war etwas anderes.
Sie sah ein langsames, qualvolles und frustrierendes Ende vor sich. Als sei sie im Weltraum gestrandet, nur ohne die verhältnismäßig schnelle Erlösung, wenn der Sauerstoff verbraucht war.
All das konnte einen durchaus in den Wahnsinn treiben.
Wie lange saßen sie schon hier unten fest? Seit Stunden, so viel war sicher. Aber sie hätte nicht sagen können, seit wie vielen Stunden.
Sie hatten versucht, den Stein zurückzurollen, doch das war unmöglich. Die Konstruktion war zwar darauf ausgelegt, dass er von innen zurückgerollt werden konnte, aber ihnen fehlten die nötigen Hebel. Dann hatten sie nach einem anderen Ausgang gesucht, waren dem Spinnennetz der Stromkabel in alle möglichen Richtungen gefolgt. Die Taschenlampe hatten sie nur sehr sparsam benutzt, und irgendwann war sie ganz erloschen. Von da an hatten sie sich mit der Displaybeleuchtung von Reillys BlackBerry beholfen, bis auch dessen Akku leer war.
Tess wusste, wie riesig diese unterirdischen Zitadellen waren. Die Schätzungen darüber, wie viele Menschen darin Unterschlupf finden konnten, gingen weit auseinander, von ein paar tausend bis hin zu zwanzigtausend in den größten. Das bedeutete weite Entfernungen, viele Tunnel – und viele Sackgassen.
Sie würden nicht so bald hinausfinden, das war klar.
«Was, wenn wir hier endgültig in der Falle sitzen?»
Reilly legte den Arm um sie und drückte sie an sich. «Das wird nicht geschehen.»
«Aber wenn doch?», beharrte sie und schmiegte sich noch enger an ihn. «Ernsthaft – was wird dann aus uns? Verhungern wir? Oder verdursten wir eher? Verlieren wir den Verstand? Sag’s mir. Du musst so was doch in der Ausbildung gelernt haben.»
«Nicht direkt», erwiderte Reilly. «So ein Fall ist in der New Yorker Dienststelle eher nicht vorgesehen.»
Es war jetzt stockdunkel, ohne den geringsten Lichtschimmer – so dunkel, dass es fast schon blendete. Tess konnte nichts von Reilly sehen, sie hörte nur seinen Atem und fühlte, wie seine Brust sich hob und senkte und er sie fester an sich drückte. Ihre Gedanken schweiften in die nicht allzu ferne Vergangenheit, zu einer früheren Zeit, als sie beide sich im Dunkeln aneinandergeschmiegt hatten, gar nicht so weit von dem Ort, wo sie jetzt waren.
«Weißt du noch, unsere erste Nacht?», fragte sie. «In dem Zelt, bevor wir zu dem See kamen?»
Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. «Jep.»
«Das war schön.»
«Es war ziemlich wunderbar.»
«Mehr als wunderbar.» Tess ließ die Erinnerungen in sich aufsteigen. Sie erzeugten eine tröstliche Wärme. «Ich habe mir immer gewünscht, ich könnte diesen ersten Kuss noch einmal erleben», sagte sie zu ihm. «So etwas kann es wohl kein zweites Mal geben, nicht wahr?»
«Lass uns diese Theorie mal auf die Probe stellen.» Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, zog sie zu sich heran und küsste sie lange und innig. Ein verzweifelter, begieriger Kuss, der mehr sagte, als Worte jemals hätten ausdrücken können.
«Vielleicht habe ich
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