Dogma
letztendlich einerseits von den fundamentalistischen Regimen in östlicheren Ländern wie Saudi-Arabien und Afghanistan verboten, weil sie als in häretischer Weise liberal galt, und andererseits von den fortschrittlichen Türken genau aus dem gegenteiligen Grund.
An der Fülle strenger Bärte und fest gebundener Kopftücher, die das Stadtbild prägten, war ersichtlich, das Konya ein sehr religiöser und konservativer Ort war. Im Gegensatz dazu gab es aber auch Scharen westlicher Touristen in luftiger Sommerkleidung; beide Gruppen mischten sich ganz selbstverständlich. Tess und Reilly schlossen sich dem Strom der Pilger an, die – Männer und Frauen, Jung und Alt, aus allen Teilen der Welt – in Scharen zu dem Schrein strebten. Er ragte hoch vor ihnen auf, unübersehbar mit seinem niedrigen, spitzen, türkisfarbenen Turm. Das große, graue mittelalterliche Gebäude war früher Rumis
Tekke
gewesen, der Ort, wo er und seine Anhänger lebten und meditierten. Jetzt war er zu einem Museum umgebaut, in dessen Mitte sich Rumis Grab sowie das seines Vaters und anderer Sufi-Heiliger befanden.
Tess und Reilly folgten den Menschen durch das große, bogenförmige Portal in das Herz des Mausoleums. In den meisten Räumen waren Dioramen mit lebensgroßen Puppen in traditionellen Sufi-Ritualen ausgestellt, eine geisterhafte Erinnerung an eine nicht so ferne Tradition, die gewaltsam unterbrochen worden war.
Tess entdeckte einen Stand mit Prospekten in verschiedenen Sprachen. Sie nahm sich einen in Englisch und las darin, während sie durch die Ausstellung wanderten. An einer Stelle nickte sie. Reilly bemerkte es.
«Was ist?», fragte er.
«Rumis Schriften. Hör dir das mal an.
‹Ich suchte nach Gott unter den Christen und am Kreuz, und dort fand ich ihn nicht. Ich ging in die alten Götzentempel; dort war keine Spur von ihm. Ich trat in die Felsenhöhle von Hira und drang sehr weit ins Innere vor, aber
Gott fand ich nicht. Dann richtete ich meine Suche auf die Kaaba, wohin Alt und Jung pilgern; Gott war nicht dort. Schließlich blickte ich in mein eigenes Herz, und da sah ich Ihn; Er war nirgendwo anders.›
»
«Ein mutiger Bursche», kommentierte Reilly. «Mich wundert, dass er seinen Kopf behalten durfte.»
«Der Seldschukensultan hat ihn sogar eingeladen, hier zu leben. Er hatte kein Problem mit Rumis Ideen, ebenso wenig, wie er ein Problem mit den Christen in Kappadokien hatte.»
«So ein paar Seldschuken könnten wir heute auch brauchen.»
Tess hing ein wenig dem Gedanken nach, wie anders die Welt hätte sein können. «Weißt du, je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr Gemeinsamkeiten sehe ich zwischen dem, was die Sufis glaubten, und dem, wovon ich denke, dass die Templer es erreichen wollten. Für beide war Religion etwas, das uns alle enger zusammenführen sollte, keine spaltende Macht.»
«Wenigstens sind die Burschen hier nicht auf dem Scheiterhaufen geendet.»
Tess zuckte die Schultern. «Sie hatten keinen König, der nach dem Gold in ihren Schatztruhen gierte.»
Sie betraten den prächtigen Raum, in dem Mawlana Jelaluddin Rumi, der
Mevlana
persönlich – der Meister –, begraben war. Der höhlenartige Raum war atemberaubend, die Wände Meisterwerke kunstvoll verschlungener goldener Kalligraphien, die Decke ein überwältigendes Kaleidoskop von Arabesken. Und in der Mitte sein Grab, übergroß und herrschaftlich. Ein riesiges, goldbesticktes Tuch deckte es ab, auf dem ein gewaltiger Turban ruhte.
Tess und Reilly hielten sich im Hintergrund und beobachteten, wie Pilger mit Tränen in den Augen ihre Stirn an einer silbernen Stufe vor dem Grab rieben und sie dann küssten. Andere standen im Raum und lasen die Worte des Dichters entweder still für sich oder in kleinen Gruppen, ein seliges Leuchten auf dem Gesicht. Alle sprachen mit gedämpfter Stimme, es herrschte eine andächtige Atmosphäre. Die Menschen wirkten eher wie Verehrer eines verstorbenen großen Dichters, als dass sie den religiösen Eifer von Pilgern erkennen ließen. Genau das hatte Tess befürchtet. Sie konnte nichts entdecken, was ihr geholfen hätte, ihre mysteriöse Tuchmacherfamilie ausfindig zu machen – vorausgesetzt, es gab sie überhaupt. Sie hätte herumfragen müssen, aber sie wusste nicht, wen sie fragen sollte.
Die beiden verließen den Schrein wieder und liefen eine breite Allee entlang, die mitten hinein in die Altstadt führte. In Läden, Cafés und Restaurants wimmelte es von Einheimischen und Besuchern, und
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