Dogma
Sie wurde im Wohnzimmer eines großen, alten Hauses abgehalten. Die Derwische, rund ein Dutzend Männer und Frauen, versanken in Trance und drehten sich endlos um sich selbst. Mit ausgebreiteten Armen – die rechte Hand nach oben geöffnet, um den Segen des Himmels zu empfangen, die linke Handfläche nach unten gewandt, um ihn an die Erde abzugeben – bewegten sie sich zu den sanften, hypnotischen Klängen einer Rohrflöte, Rumis geliebter
Nay
– der göttliche Atem, der allen Dingen Leben einhaucht –, und einer Trommel. Dazu rezitierte ein sitzender alter Mann, ihr Meister, wiederholt den Namen Gottes – der Teil der Zeremonie, der am strengsten verboten war. Aber niemand stürmte das Haus, und niemand wurde verhaftet. Die Zeiten änderten sich, wie es schien.
Der Älteste jedoch war eben keine große Hilfe, genauer, er war gar keine Hilfe. Durch seinen Enkel als Übersetzer teilte er Tess mit, er wisse von keinen Tuchmachern, die einmal angesehene Derwische gewesen waren, und auch von keinen, die es derzeit waren. Tess und Reilly bedankten sich für die Gastfreundschaft und machten sich auf die Suche nach dem Hotel, in dem der Mann vom Reisebüro ein Zimmer für sie gebucht hatte.
«Ich hätte mich nicht so in meine Hoffnung hineinsteigern sollen», murrte Tess, erschöpft und ernüchtert. «Es gab so viele Logen in Konya, schon damals. Da nun gerade auf die eine richtige zu stoßen … Die Chance war nicht besonders groß, wie?» Sie seufzte. «Das könnte noch einige Zeit dauern.»
«Wir können nicht länger hierbleiben», wandte Reilly ein. «Ich werde in New York erwartet. Und wir haben nichts dabei, nicht mal eine Zahnbürste oder Kleidung zum Wechseln. Im Ernst, das ist doch Irrsinn. Wir wissen ja gar nicht, ob es überhaupt hier ist.»
«Ich gebe nicht auf. Wir sind doch gerade erst angekommen. Ich muss zu mehreren solchen Zeremonien, mit mehr Ältesten reden.» Sie warf Reilly einen Blick zu. «Ich
muss
das tun, Sean. Wir sind dicht dran. Das spüre ich. Und ich kann jetzt nicht einfach alles hinwerfen. Ich muss das durchziehen. Reise du allein ab. Ich bleibe.»
Reilly schüttelte den Kopf. «Das ist viel zu gefährlich. Dieser Hurensohn ist immer noch irgendwo da draußen. Ich lass dich nicht allein hier.»
Tess verzog das Gesicht. Reillys Sorge war nicht unbegründet. «Ich weiß, du hast ja recht», lenkte sie nachdenklich ein, ratlos, wie es jetzt weitergehen sollte.
Reilly legte den Arm um sie. «Komm, lass uns erst mal das Hotel suchen. Ich bin völlig erschlagen.»
Sie kamen ins Basarviertel, wo sie nach dem Weg fragten, und durchquerten dann eine mehrstöckige Markthalle von der Größe eines Flugzeughangars. Trotz der späten Stunde herrschte hier noch reges Treiben. Tess und Reilly schlugen die verschiedensten Gerüche entgegen, von Bergen farbenfroher Früchte und Gemüse, eimerweise frisch zubereitetem
Domates salçası
, Tomatensoße, und säckeweise Zuckerrüben und Gewürzen in allen Farben. Hinter den Auslagen standen alte Männer mit gemusterten Kappen und alte Frauen mit bunten Kopftüchern, und
Çay-
Jungen boten auf Tabletts sirupsüßen Tee feil. Ein Stand mit Döner Kebab und Joghurtgetränk mit Minze zog sie unwiderstehlich an. Sie hatten seit dem Morgen kaum etwas gegessen.
«Kannst du nicht noch ein paar Tage länger bleiben?», beschwor Tess Reilly. Der Gedanke, die Suche aufzugeben und abzureisen, lag ihr ebenso schwer im Magen wie die Vorstellung, allein zu bleiben.
«Das bezweifle ich.» Reilly warf das leere Einwickelpapier in einen überquellenden Abfalleimer und trank seinen Becher leer. «Ich habe wegen der Angelegenheit in Rom noch einiges zu erklären.»
«Rom», wiederholte Tess in abwesendem Ton. Eine Ewigkeit schien das zurückzuliegen.
«Die wissen nicht mal, dass wir hier sind. Ich muss mich melden, um zu fragen, wann wir abgeholt werden und ob sie uns von hier abholen können. Außerdem will ich selbst zurück. Von hier aus kann ich nicht viel ausrichten. Ich muss wieder an meinen Schreibtisch, um die Informationen zu koordinieren und sicherzustellen, dass alle wichtigen Stellen in Alarmbereitschaft sind. Wenn er das nächste Mal auftaucht, darf er uns nicht wieder durch die Lappen gehen.» Er legte Tess die Hände auf die Schultern und zog sie an sich. «Schau, das heißt doch nicht, dass du diese Sache aufgeben musst. Immerhin haben wir jetzt einen Kontaktmann hier, den Mann vom Reisebüro. Du kannst ihn von New York aus anrufen, und er
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