Dogma
kann für dich Nachforschungen anstellen. Er ist sowieso in einer günstigeren Position. Wir können ihn dafür bezahlen, er machte doch einen hilfsbereiten Eindruck. Und wenn er etwas findet, setzen wir uns in den nächsten Flieger und kommen wieder her.»
Tess erwiderte nichts. Sie starrte an ihm vorbei auf etwas, das offenbar ihr Interesse geweckt hatte. Reilly sah sie einen Moment lang fragend an, dann drehte er sich um. Da war ein Teppichladen. Ein rundlicher, kahlköpfiger Mann trug eine Werbetafel vom Gehweg hinein. Offenbar war gerade Ladenschluss.
«Kommst du jetzt etwa in Shopping-Laune?», fragte Reilly. «Bei allem, was gerade los ist?»
Tess warf ihm einen strafenden Blick zu und zeigte auf das Schild über dem Eingang.
Kismet Teppiche und Kelims
stand da, und darunter «Traditioneller Handwerksbetrieb».
Reilly verstand nicht.
Tess zeigte wieder hin und machte ein Gesicht, als wolle sie sagen:
Schau doch hin.
Reilly betrachtete das Schild erneut. Und dann sah er es.
Ganz unten, neben der Telefonnummer, stand in kleinerer Schrift ein Name. Wahrscheinlich der des Besitzers. Hakan Kazzazoglu.
Kazzaz-
oglu.
Den ersten Teil erkannte Reilly wieder, aber es passte nicht zu dem, was er erwartet hätte. Von Stoffen war nichts zu sehen. «Das ist doch ein Teppichladen», bemerkte er verwirrt. «Und was heißt ‹oglu› ?»
«Das ist eine Nachsilbe, die in türkischen Familiennamen häufig vorkommt», erwiderte Tess. «Es bedeutet ‹Söhne von› oder ‹Nachkommen von›.»
Damit steuerte sie auf den Eingang zu.
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Kapitel Vierundfünfzig
Wie Tess bereits geschlussfolgert hatte, war der Teppichhändler tatsächlich der Nachfahr eines Tuchmachers. In ihrer Verzweiflung war sie zu ihm offener gewesen als zu dem Sufi-Meister; sie hatte ihm erzählt, ihr seien ein paar alte biblische Manuskripte in die Hände gefallen und sie versuche, Näheres darüber herauszufinden, woher sie stammten. Nach einigem Zögern hatte sie sogar einen der Kodizes aus dem Rucksack geholt und ihm gezeigt. Leider erwies sich der Teppichhändler als ebenso wenig hilfreich wie der Sufi-Älteste.
Nicht dass er ihren Fragen auswich oder irgendwie schwierig war; der Mann schien tatsächlich nicht zu wissen, wovon Tess sprach, auch wenn er ganz offen von seiner Familiengeschichte erzählte und keinen Hehl daraus machte, selbst praktizierender Sufi zu sein.
Doch Tess ließ sich nicht entmutigen. Sie hatte das sichere Gefühl, auf eine Spur gestoßen zu sein. Was sie suchten, war nicht zwangsläufig ein Tuchmacher oder Tuchhändler. Es war ein Name. Ein Familienname, ganz gleich, welches Gewerbe der Träger betrieb. Und in dieser Hinsicht war der Teppichhändler durchaus eine Hilfe. Er schrieb eine Liste aller anderen Kazzazoglus, von denen er wusste, und notierte die Adressen ihrer Läden. Es gab mehr als ein Dutzend mit den unterschiedlichsten Gewerben, von Teppichhändlern, wie er selbst einer war, bis hin zu Töpfern. Sogar ein Zahnarzt war darunter. Außerdem schrieb der Mann weitere Familiennamen auf, die von den anderen türkischen Wörtern für «Tuchmacher» abgeleitet waren – denen, die der Taxifahrer Tess aufgeschrieben hatte.
Die beiden bedankten sich bei dem Mann und wünschten ihm einen schönen Feierabend.
Tess fühlte sich ermutigt. «Wir können jetzt nicht abreisen», sagte sie zu Reilly und wies auf die Liste. «Komm schon. Noch einen Tag. Schlag nur noch einen einzigen Tag für uns raus. Erzähl denen, es gäbe bezüglich des Iraners eine neue Spur oder so. Dir fällt schon irgendwas ein.»
Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, um seine Erschöpfung abzuschütteln, und sah Tess an. Ihr Eifer wirkte so ansteckend, selbst in der besten Verfassung hätte er ihr kaum widerstehen können. Nach allem, was er in den vergangenen Tagen durchgemacht hatte, war er vollkommen machtlos dagegen.
«Du bist schlimm», sagte er.
«Eine ganz Schlimme», versetzte sie lächelnd, hakte sich bei ihm ein, und beide machten sich wieder auf den Weg zum Hotel.
Reilly erklärte Aparo in groben Zügen, was sie vorhatten, und erfand eine vage Geschichte, die sein Partner ihrem Chef erzählen sollte. Am nächsten Morgen brachen er und Tess in aller Frühe auf und arbeiteten die Liste der Läden ab, die sie von dem Teppichhändler bekommen hatten.
Die Menschen, denen sie begegneten, waren überwältigend freundlich und entgegenkommend. Es fiel Tess mit jedem Mal leichter, offen zu sprechen, und sie
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