Dogma
Taten von Männern und Frauen scheinen kraftlos und vergeblich in den Augen der Derwische, denen der leichte Hauch des Geistes das Höchste ist …›
» Sie hielt stirnrunzelnd inne. «Moment mal. Hier steht es anders als über dem Gemälde.»
«Kannst du das nochmal vorlesen?»
Tess konzentrierte sich auf die griechischen Buchstaben, verglich die Inschrift mit ihrem Ausdruck. «Da oben werden die heroischen Taten als ‹edel› bezeichnet, nicht ‹kraftlos und vergeblich›. Und es sind die Taten ‹eines Mannes und einer Frau›, nicht von ‹Männern und Frauen› in der Mehrzahl. Der Rest ist auch sehr anders.» Sie schwieg einen Moment lang, um Wort für Wort zu vergleichen. «Derjenige, der diese Inschrift angebracht hat, wollte damit offenbar etwas mitteilen, warum sonst hätte er einige Passagen verändert.» Ihr Atem ging schneller. «Vielleicht ist es ein Hinweis darauf, wo der übrige Inhalt der Truhen versteckt ist.»
«Und das hat etwas mit Conrads ‹leidvollen, heroischen Taten› zu tun?», fragte Reilly.
«Nicht nur Conrads. Da steht ‹eines Mannes und einer Frau›. Ob das heißen soll: Conrad und eine Frau?» Tess runzelte die Stirn, tief in Gedanken versunken. «War eine Frau bei ihm? Und wenn ja, wer war sie?»
«Aber waren die Templer nicht Mönche? Mit Keuschheitsgelübde und so?»
«Du meinst das Zölibat. Ja, das stimmt. Frauen waren in ihrer Welt nicht zugelassen.»
«Und das haben sie freiwillig auf sich genommen? In einer Zeit, in der es noch keinen Sportkanal gab?»
Tess ignorierte Reillys Bemerkung und dachte nach. Nach einer Weile nahm sie einen Stift aus ihrem Rucksack und kritzelte die Version von dem Wandgemälde auf den Ausdruck neben das Original.
Wieder verglich sie beide Fassungen. «Okay. Gehen wir mal davon aus, die Änderungen wurden in einer bestimmten Absicht vorgenommen. Um uns einen Hinweis zu geben. Wer auch immer das geschrieben hat, machte aus ‹kraftlosen und vergeblichen› Taten also ‹edle›. Ob sich das wohl darauf bezieht, den Schatz von Nicäa zu retten und in Sicherheit zu bringen?»
«Und weiter?»
Tess empfand mit einem Mal eine große Klarheit. Sie liebte dieses Gefühl, sich ganz und gar auf eine Sache zu konzentrieren. «Die Taten sind nicht kraftlos und vergeblich, sie sind edel. ‹Dem Tuchmacher›. ‹Wo› den Derwischen der leichte Hauch des Geistes das Höchste ist.»
«Ich bin ganz Ohr,
Yoda
», sagte Reilly.
«Vielleicht soll uns das sagen, wer danach gesucht hat?»
«Der ‹Tuchmacher› ?»
«Ein Tuchmacher, dort wo die Derwische leben.»
«Und die leben wo?»
«In Konya natürlich.»
Reilly zuckte die Schultern. «Klar, wo auch sonst.»
«Halt den Mund. Du weißt ja nicht mal, was ein Derwisch ist.»
Reilly machte ein übertrieben betretenes Gesicht und sagte halb scherzhaft, halb verlegen: «Das ist etwas, worauf ich nicht stolz bin.»
«Ein Derwisch ist ein Angehöriger einer Sufi-Bruderschaft, du Neandertaler, also eines Sufi-Ordens. Die berühmtesten sind Rumis Anhänger. Sie sind als die ‹drehenden Derwische› bekannt, wegen ihres Gebetsrituals, bei dem sie sich wie Kreisel um die eigene Achse drehen, um einen tranceähnlichen Zustand zu erreichen, der es ihnen ermöglicht, sich auf die Gottheit in ihrem Inneren zu konzentrieren.»
«‹Die Gottheit im Inneren›», wiederholte Reilly, jetzt wieder ernst. «Das klingt irgendwie gnostisch, oder nicht?»
Tess zog eine Augenbraue hoch. «Stimmt.» Sie warf Reilly einen anerkennenden Blick zu. «Vielleicht doch kein Neandertaler.» Sie dachte kurz darüber nach. Die spirituelle Botschaft war in der Tat ähnlich. Tess ließ den Gedanken vorerst ruhen. «Rumi und seine Bruderschaft waren in Konya ansässig. Er liegt auch dort begraben; sein Grab ist heute ein großes Museum.» In Gedanken war sie bereits zwei Schritte weiter. «Konya. Es muss in Konya sein.»
«Conrad ist hier gestorben. Konya – wie weit ist das von hier?»
Tess versuchte sich zu erinnern, was Abdülkerim gesagt hatte. «Ein paar hundert Kilometer westlich von hier.»
«Das war für damalige Verhältnisse eine ziemliche Reise. Wie sind die Schriften dorthin gelangt? Wer hat sie hingebracht?»
«Vielleicht dieselbe Person, die das da geschrieben hat», mutmaßte Tess und zeigte auf die griechische Inschrift über dem Fresko. Noch immer machten ihre Gedanken wilde Sprünge, während sie nach Antworten suchte. «Aber Konya war damals eine Sufi-Hochburg, ist es heute noch. Wenn Hosius’
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