Dohlenflug
in der oberen
Etage war das Signal für Amanda Häuslschmied. Wie eine junge
Frau sprintete die hagere Seniorin durch den Salon ins Vestibül
hinaus und schnurstracks nach links hinüber zu den Feuertüren,
die Haupthaus und Garage voneinander trennten. Mit fliegenden Fingern zog
sie den Schlüssel aus dem Schloss der ersten Tür, warf diese
hinter sich zu, fummelte, während sie drinnen schon den Eindringling
die Treppe herunterpoltern hörte, den Schlüssel wieder ins
Schloss und sperrte aufatmend ab. Dasselbe tat sie auch mit der zweiten
stahlblechbewehrten Tür – und war in Sicherheit. Wer immer sich
jetzt in der Villa befand: Er hätte selbst mit einer schweren Axt
mindestens eine Viertelstunde benötigt, um in die Garage zu gelangen.
So konnte er nur ärgerlich mit der Faust auf die innere Tür
einschlagen.
Erst jetzt merkte die alte
Frau, wie sehr ihre Hände und Knie zitterten und dass ihre Linke noch
immer das Handy umklammerte. Ehe die Beine unter ihr nachgeben konnten,
öffnete sie die Beifahrertür ihres BMW X5 und ließ sich in
das Ledergestühl fallen.
Noch während sie den
Notruf betätigte, konnte sie etwas abseits vom Haus einen Wagen
starten und eilig davonfahren hören.
16
»KATZE, DU MUSST
AUFSTEHEN. Wir müssen nach Gastein.«
Melanie Kotek öffnete
ein Auge und blickte auf den Radiowecker. Fast sieben! Dann sah sie die
blaue Jeans, das hellblaue Baumwollhemd, die unvermeidliche graue
Lederjacke und die frisch rasierte knautschige Albert-Einstein-Visage
unter der lässig nach hinten geföhnten weißgrauen Mähne:
Oskar Jacobi stand fertig angezogen vor dem Himmelbett.
»Wir?«, fragte
sie ungnädig.
»Ja, wir!«
»Musst du morgen nicht
zu diesem Europol-Kongress nach Wien?«
»Morgen schon, aber
eben nicht heute.«
Wenn Jacobi diesen
entschiedenen Ton anschlug, war es zwecklos, ihn daran zu erinnern, dass
ein österreichischer Gendarmerieoberst üblicherweise nicht vor
Ort ermittelte. Kotek versuchte erst gar nicht ihn umzustimmen.
»Ich habe grad
erfahren, dass Lotte Heinrich ermordet worden ist«, erklärte
er. »Es sieht so aus, als hätte es in ihrem Haus eine heftige
Auseinandersetzung gegeben.«
Kotek hatte das Gefühl,
kerzengerade im Bett zu stehen. Sie hatte eine böse Vermutung: Da würde
noch ein dicker Hund nachkommen.
»Aber das ist noch
nicht alles«, sagte Jacobi prompt. »Julie, ihre Tochter, ist
nach wie vor unauffindbar, und Regenmandl ist auch noch spurlos
verschwunden. Hans hat ihn bereits zur Fahndung ausgeschrieben. Zu guter
Letzt ist auch noch Amanda Häuslschmied, die Witwe von Hans Häuslschmied,
heute Nacht in ihrer Villa überfallen worden. Die alte Frau konnte
dem Einbrecher beziehungsweise der Einbrecherin allerdings entkommen. Und
jetzt beeil dich! Wir sollten schon längst drinnen sein.«
Mit »drinnen« war
das Innergebirg, also Gastein, gemeint. Kotek graute bei dem Gedanken an
Jacobis Rallye-Fahrstil. Ihr Partner war zwar schon fünfzig, fuhr
aber besonders gern auf Landstraßen wie Walter Röhrl auf der
Monte. Der Fall Schleißheimer schien ab jetzt Chefsache zu sein.
Jacobi hatte das Schlafzimmer
bereits verlassen und rief vom Flur aus: »Frühstück steht
auf dem Tisch. Wastl und Stubi sind schon benachrichtigt und ein paar
andere Telefonate noch zu erledigen. Auf drei Wagen werden Winterreifen
aufgezogen, weil ein weiterer Wettersturz gemeldet ist. Spute dich!
Abfahrt ist spätestens in einer halben Stunde.«
Melanie Kotek verzichtete auf
den Kalauer, Tote könnten ohnehin nicht mehr davonlaufen, seine Eile
sei daher völlig unangemessen. Auch für den Spott über die
Winterreifen fehlte ihr die Energie.
Die Wucht des Gehörten
drückte sie nieder und nahm ihr die Schlagfertigkeit. Dazu kamen die
Selbstvorwürfe. Unmengen davon. Warum hatte sie die Todesahnungen der
Bachblüten-Lotte gestern auf die leichte Schulter genommen und sie
nach dem aufschlussreichen Besuch bei den Schleißheimers nicht ein
zweites Mal verhört? Beim Abendessen hatte Feuersang sie sogar noch
gefragt, ob eine zweite Vernehmung vorgesehen sei. Indem sie die auf den nächsten
Tag verschoben und dem Wunsch nachgegeben hatte, zu einer christlichen
Zeit nach Hause zu fahren, hatte sie bei Leo offene Türen eingerannt,
aber schließlich leitete nicht er die Ermittlungen, sondern sie!
Selbstvorwürfe und
Gewissensbisse waren in ihrem Beruf
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