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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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und Sinnierer, und ich sagte schon, daß sein Forscherhang – wenn man von Forschung sprechen kann, wo es sich eigentlich nur um träumerische Kontemplation handelte – sich immer in eine bestimmte Richtung neigte, nämlich die mystische oder eine ahnungsvoll {32} halb-mystische, in die, wie mir scheint, der dem Natürlichen nachgehende menschliche Gedanke fast mit Notwendigkeit gelenkt wird. Daß nun gar das Unterfangen, mit der Natur zu laborieren, sie zu Phänomenen zu reizen, sie zu »versuchen«, indem man ihr Wirken durch Experimente bloßstellt, – daß das alles ganz nahe mit Hexerei zu tun habe, ja schon in ihr Bereich falle und selbst ein Werk des »Versuchers« sei, war die Überzeugung früherer Epochen: eine respektable Überzeugung, wenn man mich fragt. Ich möchte wissen, mit welchen Augen man damals den Mann aus Wittenberg angesehen hätte, der, wie wir von Jonathan hörten, vor hundert und einigen Jahren das Experiment der sichtbaren Musik erfunden hatte, das wir zuweilen zu sehen bekamen. Zu den wenigen physikalischen Apparaten, über die Adrians Vater verfügte, gehörte eine runde und frei schwebende, nur in der Mitte auf einem Zapfen ruhende Glasplatte, auf der dieses Wunder sich abspielte. Die Platte war nämlich mit feinem Sande bestreut, und vermittelst eines alten Cellobogens, mit dem er von oben nach unten an ihrem Rande hinstrich, versetzte er sie in Schwingungen, nach welchen der erregte Sand sich zu erstaunlich präzisen und mannigfachen Figuren und Arabesken verschob und ordnete. Diese Gesichtsakustik, worin Klarheit und Geheimnis, das Gesetzliche und Wunderliche reizvoll genug zusammentraten, gefiel uns Knaben sehr; aber nicht zuletzt um dem Experimentator eine Freude zu machen, baten wir ihn öfters, sie uns vorzuführen.
    Ein verwandtes Gefallen fand er an Eisblumen und halbe Stunden lang konnte er sich an Wintertagen, wenn diese kristallischen Niederschläge die bäuerlich kleinen Fenster des Buchelhauses bedeckten, mit bloßem Auge und durch sein Vergrößerungsglas, in ihre Struktur vertiefen. Ich möchte sagen: alles wäre gut gewesen und man hätte darüber zur Tagesordnung übergehen können, wenn die Erzeugnisse sich, {33} wie es ihnen zukam, im Symmetrisch-Figürlichen, streng Mathematischen und Regelmäßigen gehalten hätten. Aber daß sie mit einer gewissen gaukelnden Unverschämtheit Pflanzliches nachahmten, aufs wunderhübscheste Farnwedel, Gräser, die Becher und Sterne von Blüten vortäuschten, daß sie mit ihren eisigen Mitteln im Organischen dilettierten, das war es, worüber Jonathan nicht hinwegkam, und worüber seines gewissermaßen mißbilligenden, aber auch bewunderungsvollen Kopfschüttelns kein Ende war. Bildeten, so lautete seine Frage, diese Phantasmagorien die Formen des Vegetativen
vor
, oder bildeten sie sie
nach
? Keines von beidem, antwortete er wohl sich selbst; es waren Parallelbildungen. Die schöpferisch träumende Natur träumte hier und dort dasselbe, und durfte von Nachahmung die Rede sein, so gewiß nur von wechselseitiger. Sollte man die wirklichen Kinder der Flur als die Vorbilder hinstellen, weil sie organische Tiefenwirklichkeit besaßen, die Eisblumen aber bloße Erscheinungen waren? Aber ihre Erscheinung war das Ergebnis keiner geringeren Kompliziertheit stofflichen Zusammenspiels, als diejenige der Pflanzen. Verstand ich unseren Gastfreund recht, so war, was ihn beschäftigte, die Einheit der belebten und der sogenannten unbelebten Natur, es war der Gedanke, daß wir uns an dieser versündigen, wenn wir die Grenze zwischen beiden Gebieten allzu scharf ziehen, da sie doch in Wirklichkeit durchlässig ist und es eigentlich keine elementare Fähigkeit gibt, die durchaus den Lebewesen vorbehalten wäre, und die nicht der Biologe auch am unbelebten Modell studieren könnte.
    Auf eine wie verwirrende Art in der Tat die Reiche ineinander geistern, lehrte uns der »Fressende Tropfen«, dem Vater Leverkühn mehr als einmal vor unseren Augen seine Mahlzeit verabreichte. Ein Tropfen, bestehe er nun aus was immer, aus Paraffin, aus ätherischem Öl – ich erinnere mich nicht mit Bestimmtheit, woraus dieser bestand, ich glaube, es war Chlo {34} roform –, ein Tropfen, sage ich, ist kein Tier, auch kein primitivstes, nicht einmal eine Amöbe, man nimmt nicht an, daß er Appetit verspürt, Nahrung zu ergreifen, das Bekömmliche zu behalten, das Unbekömmliche abzulehnen weiß. Ebendies aber tat unser Tropfen. Er hing abgesondert in einem Glase

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