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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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und frevelhafter Dynamik noch nichts zu tun gehabt habe; und in diesen Verfall gehöre der große Bach aus Eisenach, den Goethe ganz zurecht einen Harmoniker genannt habe, schon mitten hinein. Man sei nicht der Erfinder des temperierten Klaviers,
also
der Möglichkeit, jeden Ton mehrdeutig zu verstehen und ihn enharmonisch zu verwechseln,
also
der neueren harmonischen Modulationsromantik, ohne den harten Namen zu verdienen, den der Bescheidwisser von Weimar ihm gegeben habe. Harmonische Kontrapunktik? Das gebe es nicht. Das sei nicht Fleisch und nicht Fisch. Die Erweichung, Verweichlichung und Verfälschung, die Umdeutung der alten und echten, als Ineinanderklingen verschiedener Stimmen empfundenen Polyphonie ins Harmonisch-Akkordische habe schon im 16. Jahrhundert begonnen, und Leute wie Palestrina, die beiden Gabrieli und unser braver Orlando di Lasso hier auf dem Platz hätten bereits schimpflich daran teilgehabt. Diese Herrschaften brächten uns den Begriff der vokal-polyphonen Kunst »menschlich« am nächsten, o ja, und erschienen uns darum als die größten Meister dieses Stils. Das komme aber einfach daher, daß sie sich großen Teils schon in einer rein akkordischen Satzart gefielen und ihre Art, den polyphonen {409} Stil zu traktieren schon recht erbärmlich von der Rücksicht auf den harmonischen Zusammenklang, auf die Beziehung von Konsonanz und Dissonanz erweicht gewesen sei.
    Während alles sich wunderte und erheiterte und sich auf die Knie schlug, suchte ich nach Adrians Augen bei diesen ärgerlichen Reden; doch gewährte er mir nicht seinen Blick. Was von Riedesel anging, so war er die Beute völliger Konfusion.
    »Pardon«, sagte er, »erlauben Sie … Bach, Palestrina …«
    Diese Namen besaßen für ihn den Nimbus konservativer Autorität, und nun wurden sie dem Bereich modernistischer Zersetzung überwiesen. Er sympathisierte – und war zugleich so unheimlich berührt, daß er sogar sein Monokel aus dem Auge nahm, wodurch sein Gesicht jedes Schimmers von Intelligenz beraubt war. Auch ging es ihm nicht besser, wenn Breisachers kulturkritisches Perorieren ins Alt-Testamentarische fiel, sich also seiner persönlichen Ursprungssphäre, dem jüdischen Stamm oder Volk und dessen Geistesgeschichte zuwandte und auch hier einen höchst equivoquen, ja hahnebüchenen und dabei boshaften Konservativismus bewährte. Wenn man ihn hörte, setzten da Verfall, Verdummung und der Verlust jeder Fühlung mit dem Alten und Echten so frühzeitig und an so respektabler Stelle ein, wie niemand es sich hatte träumen lassen. Ich kann nur sagen: Es war im Ganzen wahnsinnig komisch. Für ihn waren solche jedem Christenkinde ehrwürdigen biblischen Personagen wie die Könige David und Salomo, sowie die Propheten mit ihrem Salbadern vom lieben Gott im Himmel, bereits die heruntergekommenen Repräsentanten einer verblasenen Spät-Theologie, die von der alt- und echten hebräischen Wirklichkeit des Volks-Elohim Jahwe keine Ahnung mehr hatte und in den Riten, mit denen man zur Zeit echten Volkstums diesem Nationalgott diente oder vielmehr ihn zu körperlicher Gegenwart zwang, nur noch »Rätsel der Urzeit« sah. Besonders auf den »weisen« Salomo war er {410} scharf und sprang mit ihm um, daß die Herren durch die Zähne pfiffen und die Damen ein erstauntes Jauchzen hören ließen.
    »Pardon!« sagte von Riedesel. »Ich bin, gelinde gesagt … König Salomo in seiner Herrlichkeit … Sollten Sie nicht …«
    »Nein, Exzellenz, ich sollte nicht«, erwiderte Breisacher. »Der Mann war ein von erotischen Genüssen entnervter Ästhet und in religiöser Beziehung ein fortschrittlicher Dummkopf, typisch für die Rückbildung vom Kult des wirkend gegenwärtigen Nationalgottes, dieses Inbegriffs der metaphysischen Volkskraft, zur Predigt eines abstrakten und allgemeinmenschlichen Gottes im Himmel, von der Volksreligion also zur Allerweltsreligion. Deß zum Beweise brauchen wir nur die skandalöse Rede nachzulesen, die er nach Fertigstellung des ersten Tempels hielt, und worin er fragt: ›Kann denn Gott bei den Menschen auf Erden wohnen?‹ – als ob nicht Israels ganze und alleinige Aufgabe darin bestünde, Gott eine Wohnung, ein Zelt zu schaffen und mit allen Mitteln für seine ständige Anwesenheit zu sorgen. Salomo aber entblödet sich nicht, zu deklamieren: ›Die Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dies Haus, das ich gebaut habe!‹ Das ist Geschwätz und der Anfang vom Ende, nämlich von der entarteten

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