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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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verbunden sind. Ines verachtete im Grunde den Schönheitsbetrieb der sinnenfrohen Stadt, in welche die mütterliche Neugier auf größere Sittenfreiheit sie verpflanzt hatte, aber sie nahm um ihres bürgerlichen Unterkommens willen an den Festen einer Gesellschaft teil, die ein einziger großer Kunstverein war, und gerade das war der Ruhe gefährlich, die sie suchte. Mein Gedächtnis bewahrt prägnante und ängstliche Bilder aus dieser Zeit. Ich sehe uns, die Roddes, die Knöterichs etwa dazu und mich selbst nach der besonders glänzenden Aufführung einer Tschaikowsky-Symphonie im Zapfenstößer-Saal in einer der vordersten Reihen unter der Menge stehen und applaudieren. Der Dirigent hatte das Orchester zum Aufstehen veranlaßt, damit es, zusammen mit ihm, den Dank des Publikums für seine schöne Arbeit entgegennehme. Schwerdtfeger, nicht weit links vom Konzertmeister (dessen Platz er binnen kurzem einnehmen sollte), stand, sein Instrument im Arm, erhitzt und strahlend gegen den Saal gewandt und grüßte nickend, in nicht ganz zulässiger {434} Intimität, persönlich zu uns herüber, während Ines, auf die einen Blick zu werfen ich mir nicht versagen konnte, schräg vorgeschobenen Kopf, den Mund in schwieriger Schalkheit gespitzt, ihre Augen hartnäckig auf einen anderen Punkt dort oben, auf den Kapellmeister, nein, irgendwohin weiter weg, auf die Harfen, gerichtet hielt. Oder: Ich sehe Rudolf selbst, enthusiasmiert von der Standard-Leistung eines gastierenden Kunstgenossen, im Vordergrund eines schon fast entleerten Saales stehen und eifrig zum Podium emporklatschen, wo jener Virtuos sich zum zehnten Mal verneigt. Zwei Schritte von ihm entfernt, zwischen den durcheinandergerückten Stühlen, steht Ines, die an diesem Abend so wenig wie wir anderen mit ihm in Berührung gekommen, sieht ihn an und wartet darauf, daß er's genug sein lasse, sich wende, sie bemerke und sie begrüße. Er läßt nicht ab und bemerkt sie nicht. Vielmehr, aus dem Augenwinkel sieht er dennoch nach ihr, oder, wenn das zu viel gesagt ist: seine blauen Augen haben keinen ganz ungestörten Blick auf den Helden dort oben, sie werden, ohne daß sie wirklich in den Winkel gingen, leicht nach der Seite abgezogen, wo sie steht und wartet, aber ohne daß er sein begeistertes Tun unterbräche. Noch ein paar Sekunden, und sie wendet sich, bleich, Zornesfalten zwischen den Brauen, auf dem Fleck und eilt davon. Sogleich gibt er es auf, den Star noch einmal hervorzuklatschen und folgt ihr. An der Tür holt er sie ein. Sie setzt eine Miene auf, die kalte Überraschung bekundet, darüber, daß er hier, daß er überhaupt auf der Welt ist, verweigert ihm Hand, Blick und Wort und eilt weiter.
    Ich sehe ein, daß ich diese Quisquilien und Krümel-Abfälle meiner Beobachtung hier gar nicht hätte aufnehmen dürfen. Sie sind nicht buchgerecht, sie mögen in den Augen des Lesers etwas Läppisches haben, und er mag sie mir als lästige Zumutungen verargen. Er rechne es mir wenigstens an, daß ich hundert andere, ähnliche unterdrücke, die sich ebenfalls in {435} meiner Wahrnehmung, derjenigen eines mitleidigen Menschenfreundes, gleichsam verfingen und dank dem Unglück, zu dem sie akkumulierten, schon gar nicht aus meiner Erinnerung zu lösen sind. Ich habe das Heranwachsen einer Katastrophe, die freilich im allgemeinen Weltgeschehen eine sehr unbeachtliche Rolle spielte, durch Jahre verfolgt und über mein Sehen und Sorgen nach allen Seiten hin reinen Mund gehalten. Einzig zu Adrian sprach ich gleich damals zu Anfang einmal in Pfeiffering davon – obgleich ich im ganzen wenig Neigung hatte, sogar stets eine gewisse Scheu trug, mit ihm, der in mönchischem Détachement von Liebesdingen lebte, über gesellschaftliche Vorkommnisse dieser Art zu sprechen. Ich tat es dennoch, erzählte ihm unter der Hand, daß Ines Rodde, obgleich im Begriff, sich mit Institoris zu verloben, nach meiner Beobachtung heillos und sterblich in Rudi Schwerdtfeger verliebt sei.
    Wir saßen in der Abtsstube und spielten Schach.
    »Das sind Neuigkeiten!« sagte er. »Du willst wohl, daß ich meinen Zug verfehle und den Turm da verliere?«
    Er lächelte, schüttelte den Kopf und setzte hinzu:
    »Armes Gemüt!«
    Dann, beim ferneren Überlegen des Zuges, mit einer Pause zwischen den Sätzen:
    »Übrigens ist das kein Spaß für ihn. – Er soll zusehen, daß er heil aus der Sache davonkommt.«

XXX
    Die ersten glühenden August-Tage 1914 fanden mich, überfüllte Züge wechselnd, in

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