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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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wimmelnden Bahnhofshallen wartend, deren Perrons mit Reihen liegen gebliebener Bagage bedeckt waren, auf überstürzter Reise von Freising nach dem thüringischen Naumburg, wo ich als Vize-Wachtmeister der {436} Reserve mich sogleich mit meinem Regiment zu vereinigen hatte.
    Der Krieg war ausgebrochen. Das Verhängnis, das so lange über Europa gebrütet hatte, war los und raste, verkleidet als diszipliniertes »Klappen« alles Vorgesehenen und Eingeübten, durch unsere Städte, tobte als Schrecken, Emporgerissensein, Pathos der Not, Schicksalsergriffenheit, Kraftgefühl und Opferbereitschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen. Es mag wohl sein, ich glaube es gern, daß anderwärts, in feindlichen und sogar in verbündeten Ländern, dieser Kurzschluß des Schicksals viel mehr als Katastrophe und »grand malheur« empfunden wurde, wie wir es im Felde so oft aus dem Munde französischer Frauen hörten, die freilich den Krieg im Lande, in ihren Stuben und Küchen hatten: »Ah, monsieur, la guerre, quel grand malheur!« In unserem Deutschland, das ist gar nicht zu leugnen, wirkte er ganz vorwiegend als Erhebung, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, Abwerfen des Alltags, Befreiung aus einer Welt-Stagnation, mit der es so nicht weiter hatte gehen können, als Zukunftsbegeisterung, Appell an Pflicht und Mannheit, kurz, als heroische Festivität. Meine Freisinger Primaner hatten rote Köpfe und strahlende Augen von alldem. Jugendliche Einsatz- und Abenteuerlust vereinigte sich da humoristisch mit den Vorteilen eines rasch lossprechenden Not-Abiturs. Sie stürmten die Werbe-Bureaus, und ich war froh, nicht den Ofenhocker vor ihnen spielen zu müssen.
    Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen, die ich soeben zu kennzeichnen suchte, wenn auch das Rauschhafte daran meiner Natur fern lag und mich leise unheimlich berührte. Mein Gewissen – dies Wort hier in einem über-persönlichen Sinn gebraucht – war nicht ganz rein. Eine solche »Mobilisierung« zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassend-pflichthaft {437} sie sich geben möge, hat immer etwas vom Anbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlich Pflichtgemäßen, von einem Hinter-die-Schule-laufen, einem Durchgehen zügel-unwilliger Triebe, – sie hat zu viel von alldem, als daß einem gesetzten Menschen, wie mir, ganz wohl dabei sein könnte; und moralische Zweifel, ob die Nation es bisher so gut gemacht, daß dieses blinde Hingerissensein von sich selbst ihr eigentlich erlaubt sei, verbinden sich mit solchen persönlichen Temperamentswiderständen. Hier tritt aber das Moment der Opfer-, der Todesbereitschaft ein, das über vieles hinweghilft und sozusagen ein letztes Wort ist, gegen welches sich nichts mehr sagen läßt. Wird der Krieg, mit mehr oder weniger Klarheit, als eine allgemeine Heimsuchung empfunden, in welcher der Einzelne, so auch das einzelne Volk, seinen Mann zu stehen und mit seinem Blute Sühne zu leisten bereit ist für die Schwächen und Sünden der Epoche, in die die eigenen eingeschlossen sind; stellt er sich dem Gefühl als ein Opfergang dar, durch den der alte Adam abgestreift und in Einigkeit ein neues, höheres Leben errungen werden soll, so ist die alltägliche Moral überboten und verstummt vor dem Außerordentlichen. Auch will ich nicht vergessen, daß wir damals vergleichsweise reinen Herzens zum Kriege aufbrachen und nicht meinten, es vorher zu Hause so getrieben zu haben, daß eine blutige Welt-Katastrophe als die logisch-unvermeidliche Konsequenz unserer inneren Aufführung hätte betrachtet werden müssen. So war es, Gott sei's geklagt, vor fünf Jahren, aber nicht vor dreißig. Recht und Gesetz, das Habeas corpus, Freiheit und Menschenwürde hatten im Lande in leidlichen Ehren gestanden. Zwar waren die Fuchteleien jenes im Grunde völlig unsoldatischen und für nichts weniger, als für den Krieg, geschaffenen Tänzers und Komödianten auf dem Kaiserthron dem Gebildeten peinlich – und seine Stellung zur Kultur die eines zurückgebliebenen Dummkopfes gewesen. Aber sein Einfluß auf diese hatte {438} sich in leeren Maßregelungsgesten erschöpft. Die Kultur war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezuglosigkeit zur Staatsmacht gewöhnt, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem großen Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat

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