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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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verdient hatte.
    Soviel im voraus. Rüdigers Beurteilung des Krieges war durch sein bewunderungsvolles Verhältnis zu England bestimmt, wie diejenige Jeanettens durch ihr französisch Blut. Die britische Kriegserklärung war ihm entscheidend in die Glieder gefahren und stimmte ihn außerordentlich grämlich. Nie hätte man sie nach seiner Meinung durch den vertragswidrigen Einmarsch in Belgien herausfordern dürfen. Frank {443} reich und Rußland – gut, man mochte es allenfalls mit ihnen aufnehmen. Aber England! Es war ein furchtbarer Leichtsinn. So sah er denn auch, einem verärgerten Realismus zugeneigt, im Kriege nichts als Dreck, Gestank, Amputationsgreuel, Sexual-Lizenzen und Verlausung und höhnte weidlich über den ideologischen Feuilletonismus, der den Unfug zur großen Zeit verklärte. Adrian wehrte ihm nicht, und ich, wiewohl teilnehmend an tieferer Rührung, räumte doch willig ein, daß in seinen Äußerungen ein Teil Wahrheit zu Worte kam.
    Zu dritt aßen wir im großen Nike-Zimmer zu Abend, und durch Clementine Schweigestills Ab- und Zugehen, die uns freundlich bediente, ließ ich mich bestimmen, Adrian nach dem Ergehen seiner Schwester Ursula in Langensalza zu fragen. Ihre Ehe war die glücklichste, und gesundheitlich hatte sie sich recht wohl von einer Lungenschwäche, einem leichten Spitzenkatarrh erholt, den sie sich durch drei rasch aufeinanderfolgende Kindbetten, 1911, 1912 und 1913, zugezogen hatte. Es waren die Schneidewein'schen Sprossen Rosa, Ezechiel und Raimund, die damals das Licht der Welt erblickt hatten. Bis zum Erscheinen des zauberhaften Nepomuk waren, als wir an jenem Abend beisammen saßen, noch neun Jahre.
    Viel war während der Mahlzeit und nachher in der Abtsstube von den politischen und moralischen Dingen die Rede, von dem mythischen Hervortreten der National-Charaktere, das sich in solchen geschichtlichen Augenblicken ereigne, und von dem ich mit einer gewissen Ergriffenheit sprach, um der drastisch-empirischen Anschauungsweise des Krieges, die Schildknapp für die einzig gebotene hielt, ein wenig die Waage zu halten; von der Charakterrolle Deutschlands also, der Versündigung an Belgien, die so sehr an Friedrichs des Großen Gewalttat gegen das formell neutrale Sachsen erinnerte, von dem gellenden Geschrei der Welt darüber, der Rede unseres philosophischen Reichskanzlers mit ihrem sinnenden Schuldbe {444} kenntnis, ihrem volkstümlich-unübersetzbaren »Not kennt kein Gebot«, ihrer vor Gott vertretenen Geringschätzung eines alten Rechtspapiers angesichts gegenwärtigen Lebensdranges. Es lag an Rüdiger, daß wir darüber ins Lachen kamen; denn er nahm meine einigermaßen gerührte Darstellung wohl an, zog aber all diese gemütvolle Brutalität, würdige Zerknirschung und biedere Bereitschaft zur Untat durch die Parodie des langen Denkers, der einen längst festgelegten strategischen Plan mit moralischer Poesie umkleidete, ins unwiderstehlich Komische, – noch mehr ins Komische als das fassungslose Tugend-Gebrüll einer Welt, der dieser trockene Feldzugsplan doch längst bekannt gewesen war; und da ich sah, daß dies unserem Gastgeber am liebsten war, daß er dankbar war, lachen zu können, so stimmte ich gern in die Heiterkeit ein, nicht ohne die platonische Reminiszenz, daß Tragödie und Komödie auf demselben Holze wachsen und ein Beleuchtungswechsel genügt, aus dem einen das andre zu machen.
    Überhaupt ließ ich mir Sinn und Gefühl für Deutschlands Notdrang, seine moralische Vereinsamung und öffentliche Ächtung, die, so schien mir, nur Ausdruck der allgemeinen Angst vor seiner Kraft und seinem Vorsprung in der Kriegsbereitschaft war (wobei ich zugab, daß diese, die Kraft und der Vorsprung, nun wieder uns zum derben Trost in unserer Verfemtheit gereichten) – überhaupt, sage ich, ließ ich mir meine patriotische Ergriffenheit, die so viel schwieriger zu vertreten war, als die der andern, nicht verkümmern durch die Humorisierung des Charakteristischen und verlieh ihr, im Zimmer auf und abgehend, Worte, während Schildknapp im tiefen Stuhl seine Shag-Pfeife rauchte und Adrian, wie es sich traf, vor seinem altdeutschen Arbeitstisch mit der vertieften Mittelplatte und dem aufgesetzten Schreib- und Lesepult stand. Denn merkwürdiger Weise schrieb er ja auch, etwa wie der Holbein'sche Erasmus es tut, auf schräger Fläche. Auf dem {445} Tische lagen ein paar Bücher: ein Bändchen Kleist, worin das Lesezeichen bei dem Aufsatz über die Marionetten eingelegt war,

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