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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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sehen, keinen Verrückten, sondern einen König nach ihrem derben, aber träumerischen Herzen in ihm erblickt, und wäre es ihm gelungen, über den See zu schwimmen, wie er es offenbar vorgehabt habe, so hätten sie ihn drüben mit Heugabeln und Dreschflegeln gegen Medizin und Politik verteidigt.
    Aber seine Verschwendungssucht sei doch ausgemacht krankhaft und nicht länger tragbar gewesen, und seine Regierungsunfähigkeit habe sich einfach aus seiner Unwilligkeit zum Regieren ergeben: er habe das Königsein nur noch geträumt, sich aber geweigert, es nach vernünftigen Normen auszuüben, und damit könne ein Staat nicht leben.
    Ei, alles Unsinn, Rudolf. Ein normal gebauter Ministerpräsident könne einen modernen Föderativ-Staat schon regieren, auch wenn der König zu sensitiv sei, um sein und seiner Kollegen Gesichter auszuhalten. Das Bayernland wäre nicht zugrunde gegangen, auch wenn man Ludwig seine einsamen Liebhabereien weiter gegönnt hätte, und die Verschwendungssucht eines Königs habe gar nichts zu sagen, sei bloße Redensart, ein Schwindel und Vorwand. Das Geld sei ja im Lande geblieben, und von den Märchenbauten seien Steinmetzen und Vergolder fett geworden. Überdies hätten die Schlösser sich, durch die Eintrittsgelder, die man der romantischen Neugier zweier Welten für ihre Besichtigung abnähme, längst über und über bezahlt gemacht. Wir selbst hätten heut dazu beigetragen, die Verrücktheit zum guten Geschäft zu wenden …
    »Ich verstehe Sie nicht, Rudolf«, rief ich. »Sie blasen die Backen auf vor Erstaunen über meine Apologie, aber ich bin es, der ein Recht hat, sich über Sie zu wundern und nicht zu verstehen, {627} wie gerade Sie … ich meine als Künstler und, kurz, gerade Sie …« Ich suchte nach Worten, warum ich mich über ihn wundern müsse, doch waren keine da. Ich verwirrte mich aber auch darum in meiner Suada, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, es komme mir nicht zu, in Adrians Gegenwart so das Wort zu führen. Er hätte sprechen sollen, – und doch war es besser, daß ich es tat, denn die Besorgnis quälte mich, daß er imstande sein könnte, Schwerdtfegern recht zu geben. Dem mußte ich vorbeugen, indem ich statt seiner, für ihn, in seinem rechten Geiste sprach, und es schien auch, daß Marie Godeau mein Eintreten so auffaßte und mich, den er um dieses Tages willen zu ihr gesandt, als sein Mundstück betrachtete. Denn sie blickte, während ich mich ereiferte, mehr zu ihm hinüber, als auf mich, – gerade so, als hörte sie ihm zu und nicht mir, – über dessen Hitze sich allerdings seine Miene immerfort etwas lustig machte, mit einem enigmatischen Lächeln, das fern davon war, mich in meiner Stellvertreterschaft unbedingt zu bestätigen.
    »Was ist Wahrheit«, sagte er schließlich. Und rasch fiel Rüdiger Schildknapp ihm bei, indem er aufstellte, daß die Wahrheit verschiedene Aspekte habe, und daß in einem Fall wie diesem der medizinisch-naturalistische Aspekt zwar vielleicht nicht der superiorste sei, aber doch auch nicht als ganz ungültig abgewiesen werden könne. In der naturalistischen Wahrheitsanschauung, fügte er hinzu, vereinige sich merkwürdigerweise das Platte mit dem Melancholischen, – was kein Angriff auf »unsern Rudolf« sein solle, der jedenfalls kein Melancholiker sei, aber es könne als Kennzeichnung einer ganzen Epoche gelten, des neunzehnten Jahrhunderts, dem eine entschiedene Neigung zu platter Düsternis eigen gewesen sei. Adrian lachte auf – nicht vor Überraschung, natürlich. Man hatte in seiner Gegenwart stets das Gefühl, daß alle Ideen und Gesichtspunkte, die um ihn herum laut wurden, in ihm versammelt waren, {628} und daß er, ironisch zuhörend, es den einzelnen menschlichen Verfassungen überließ, sie zu äußern und zu vertreten. Es wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß das jugendliche zwanzigste Jahrhundert eine gehobenere und geistesheiterere Lebensstimmung entwickeln möge. In abgerissenen Erörterungen der Frage, ob es dafür Anzeichen gäbe oder nicht, zersplitterte sich das Gespräch und ermüdete. Überhaupt machte Ermüdung nach all den regsam, in winterlicher Bergluft verbrachten Stunden sich geltend. Das Kursbuch sprach auch sein Wort, man rief nach dem Kutscher, und unter einem Himmel, der sich glänzend ausgestirnt hatte, führte uns der Schlitten zu der kleinen Station, auf deren Perron wir den Münchener Zug erwarteten.
    Die Heimfahrt verlief eher still, aus Rücksicht schon auf das

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