Doktor Faustus
Barockkirche eines guten architektonischen Rufs genießt. Ich erinnere mich, daß während der Weiterfahrt und dann in dem den frommen Stätten schräg gegenüberliegenden, sauber geführten Hotel, wo wir unser Diner einnahmen, das Gespräch sich andauernd um die Person des, wie man so sagt, »unglück {624} lichen« (warum eigentlich unglücklichen?) Königs drehte, mit dessen exzentrischer Lebenssphäre wir eben in einige Berührung gekommen. Die Erörterung wurde nur durch die Besichtigung der Kirche unterbrochen und war im wesentlichen eine Kontroverse zwischen Rudi Schwerdtfeger und mir über den sogenannten Wahnsinn, die Regierungsunfähigkeit, die Entthronung und Entmündigung Ludwigs, die ich zu Rudis größtem Erstaunen für ungerechtfertigt und für eine brutale Philisterei, wie übrigens auch für ein Werk der Politik und des sukzessorischen Interesses erklärte.
Jener nämlich stand ganz bei der nicht sowohl volkstümlichen als bourgeoisen und offiziell gegebenen Auffassung, daß der König »knallverrückt«, wie er sich ausdrückte, und seine Überhändigung an die Psychiater und Irrenwärter, die Einsetzung einer geistig gesunden Regentschaft eine unbedingte Notwendigkeit für das Land gewesen sei – und begriff gar nicht, wie es Widerspruch da überhaupt geben könne. Nach seiner Gewohnheit in solchen Fällen, d.h., wenn ein Standpunkt ihm allzu neu war, bohrte er seine blauen Augen, bei entrüstet aufgeworfenen Lippen, abwechselnd in mein rechtes und linkes Auge, während ich sprach. Ich muß sagen, und nahm es mit einer gewissen Überraschung wahr, daß der Gegenstand mich beredt machte, obgleich er mich bisher kaum beschäftigt hatte. Ich fand jedoch, daß ich mir unterderhand eine dezidierte Meinung darüber gebildet hatte. Wahnsinn, so setzte ich auseinander, sei ein recht schwankender Begriff, den der Spießbürger allzu beliebig, nach zweifelhaften Kriterien, handhabe. Sehr früh, ganz dicht bei sich selbst und seiner Gemeinheit setze ein solcher die Grenze vernünftigen Benehmens an, und was darüber gehe, sei Narrheit. Die königliche Daseinsform aber, souverän, von Devotion umgeben, der Kritik und Verantwortung sehr weitgehend enthoben und bei der Entfaltung ihrer Würde zu einem Stil legitimiert, der auch dem reichsten {625} Privatmann verwehrt sei, biete den phantastischen Neigungen, den nervösen Bedürfnissen und Verabscheuungen, den befremdenden Leidenschaften und Begierden ihres Trägers einen Spielraum, dessen stolze und völlige Ausnutzung sehr leicht den Aspekt des Wahnsinns biete. Welchem Sterblichen unterhalb dieser Höhe stünde es denn frei, sich goldene Einsamkeiten an erlesenen Punkten landschaftlicher Herrlichkeit zu schaffen, wie Ludwig es getan habe! Diese Schlösser seien Monumente königlicher Menschenscheu, allerdings. Allein wenn es bei den durchschnittlichen Eigenschaften unserer Spezies kaum erlaubt sei, Menschenflucht allgemein für ein Symptom der Verrücktheit zu nehmen, – warum sollte diese Erlaubnis gerade dann gegeben sein, wenn die Scheu sich in königlichen Formen äußern könne?
Aber sechs studierte und berufene Irrenärzte hätten amtlich den kompletten Wahnsinn des Königs festgestellt und seine Internierung für notwendig erklärt!
Das hätten diese gefügigen Gelehrten getan, weil sie eben dazu berufen gewesen seien, und sie hätten es getan, ohne Ludwig je gesehen, ohne ihn auch nur nach ihren Methoden »untersucht«, ohne ein Wort mit ihm gesprochen zu haben. Allerdings hätte wohl auch ein Gespräch mit ihm über Musik und Poesie diese Spießer von seinem Wahnsinn überzeugt. Auf Grund ihres Spruches habe man dem zweifellos aus der Norm Fallenden, darum aber durchaus nicht Verrückten, die Verfügung über sich selbst entzogen, ihn zum psychiatrischen Patienten erniedrigt, ihn in ein Seeschloß mit abgeschraubten Türklinken und vergitterten Fenstern gesperrt. Daß er das nicht ertragen, sondern Freiheit oder Tod gesucht und dabei seinen ärztlichen Kerkermeister mit sich in den Tod gerissen habe, spreche für sein Würdegefühl und nicht für die Wahnsinnsdiagnose. Es spreche für diese auch das Verhalten seiner Umgebung nicht, die bis zur Kampfbereitschaft an ihm ge {626} hangen, noch spreche dafür die schwärmerische Liebe der Landbevölkerung für ihren »Kini«. Diese Bauern hätten, wenn sie ihn nächtlich ganz allein, in seinen Pelz gehüllt, bei Fackelschein, in goldenem Schlitten mit Vorreitern durch seine Berge hätten fahren
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