Doktor Faustus
angehend, so griff er zu einem summarischen Verfahren. Er stellte Akkord-Tabellen für alle möglichen Tonarten her, an deren Hand jedermann seine Weisen bequem genug vier- oder fünfstimmig ausschreiben konnte, und rief damit eine wahre Woge von Komponierwut in der Gemeinde hervor. Es gab bald keinen Baptisten des Siebenten Tages, ob männlich oder weiblich, mehr, der es bei solcher Erleichterung nicht dem Meister nachgetan und Töne gesetzt hätte.
{101} Der Rhythmus war der Teil der Theorie, dessen Bereinigung dem rüstigen Manne noch übrig blieb. Er tat es mit dem entschiedensten Erfolge. Sorgfältig folgte er mit der Komposition dem Fall der Worte, einfach indem er betonte Silben mit längeren Noten, unbetonte mit kürzeren versah. Eine feste Beziehung zwischen den Notenwerten herzustellen, kam ihm nicht in den Sinn, und gerade dadurch wahrte er seinem Metrum eine beträchtliche Biegsamkeit. Daß so gut wie alle Musik seiner Zeit in wiederkehrenden Zeitmaßen von gleicher Länge, in Takten also, geschrieben war, wußte er entweder nicht oder er kümmerte sich nicht darum. Diese Unwissenheit oder Rücksichtslosigkeit aber kam ihm, wie nichts andres, zustatten, denn der schwebende Rhythmus machte einige seiner Kompositionen, besonders die von Prosa, außerordentlich effektvoll.
Dieser Mann bestellte das Feld der Musik, da er es einmal betreten, mit derselben Hartnäckigkeit, mit der er jedes seiner Ziele verfolgte. Seine Gedanken zur Theorie sammelte er und gab sie dem Buche von der »Turteltaube« als Vorwort mit. Er versah in ununterbrochener Arbeit sämtliche Poesien des »Weyrauchhügels« mit Tönen, manche von ihnen zwei- und dreimal, und komponierte alle Hymnen, die er selbst jemals geschrieben, dazu eine Menge derer, die von seinen Schülern und Schülerinnen stammten. Nicht genug damit, schrieb er eine Reihe umfangreicherer Chöre, deren Texte unmittelbar der Bibel entnommen waren. Es schien, als sei er im Begriffe, die ganze Heilige Schrift nach eigenem Rezept in Musik zu setzen; durchaus war er der Mann, einen solchen Gedanken ins Auge zu fassen. Wenn es nicht dazu kam, so nur darum, weil er einen großen Teil seiner Zeit der Ausführung des Geschaffenen, der Vortragskultur, dem Gesangsunterricht widmen mußte, – und hierin nun erzielte er das schlechthin Außerordentliche.
Die Musik von Ephrata, sagte uns Kretzschmar, sei zu un {102} gewöhnlich, zu wunderlich-eigenwillig gewesen, um von der Außenwelt übernommen werden zu können, und darum sei sie in praktische Vergessenheit gesunken, als die Sekte der deutschen Baptisten vom Siebenten Tage zu blühen aufgehört habe. Aber eine leicht sagenhafte Erinnerung daran habe sich doch durch die Jahrzehnte erhalten, und ungefähr lasse sich aussprechen, wie so ganz eigentümlich und ergreifend es damit gewesen. Die vom Chore dringenden Töne hätten zarte Instrumental-Musik nachgeahmt und den Eindruck einer himmlischen Sanftmut und Frömmigkeit in dem Hörer hervorgerufen. Das Ganze sei im Falsett gesungen worden, und die Sänger hätten kaum dabei die Münder geöffnet, noch die Lippen bewegt, mit wundersamster akustischer Wirkung. Der Klang sei nämlich dadurch zu der nicht hohen Decke des Betsaals emporgeworfen worden, und es habe geschienen, als ob die Töne, unähnlich allem menschlich Gewohnten, unähnlich jedenfalls jedem bekannten Kirchengesang, von dort herabgestiegen wären und engelhaft über den Köpfen der Versammlung geschwebt hätten.
Sein Vater, erzählte Kretzschmar, habe diesen Klängen als junger Mann noch öfters lauschen können und habe nie ohne daß sich ihm die Augen genäßt hätten, den Seinen noch im Alter davon berichtet. Er habe damals nahe Snowhill einen Sommer verbracht und sei am Freitag abend, dem Beginn des Sabbaths, einmal hinübergeritten, um vor dem Andachtshause der frommen Leute den Zaungast zu machen. Dann aber sei er immer wiedergekommen, habe jeden Freitag, wenn die Sonne sich neigte, getrieben von unwiderstehlicher Sehnsucht, sein Pferd gesattelt und sei drei Meilen geritten, um dies zu hören. Es sei ganz unbeschreiblich gewesen, mit nichts anderem auf dieser Welt nur zu vergleichen. Er habe doch, so seien des alten Kretzschmar Worte gegangen, in englischen, französischen und italienischen Opernhäusern gesessen; das aber sei Musik {103} für das Ohr gewesen, die Beißels aber ein Klang tief in die Seele und nicht mehr noch minder als ein Vorschmack des Himmels.
»Eine große Kunst«, so schloß der
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