Doktor Faustus
dem Abitur einige Wochen der Freiheit, und mich hatten seine guten Eltern zu seiner Gesellschaft mit eingeladen. Ich erinnere mich wohl des Gesprächs, das wir damals im Schlendern über Stoientins Mahnworte führten, besonders über die Redensart »Natürliche Verdienste«, deren er sich bei seiner Handschlagrede bedient hatte. Adrian wies nach, daß er sie von Goethe übernommen habe, der sie gern gebraucht oder auch häufig von »angeborenen Verdiensten« spreche, indem er durch die paradoxe Verbindung dem Wort »Verdienst« seinen moralischen Charakter zu nehmen und, umgekehrt, das Natürlich-Angeborene zu einem außer-moralisch-aristokratischen Verdienst zu erheben suche. Darum habe er sich gegen die Forderung der Bescheidenheit gewandt, die immer von den Natürlich-Benachteiligten komme, und erklärt: »Nur die Lumpe sind bescheiden«. Direktor Stoientin aber habe das Goethe'sche Wort vielmehr im Geiste Schillers gebraucht, dem an der Freiheit alles gelegen gewesen sei, und der darum zwischen Talent und persönlichem Verdienst moralisch unterschieden, Verdienst und Glück, die Goethe untrennbar verschränkt sehe, scharf voneinander getrennt habe. Das tue auch der Direktor, wenn er die Natur Gott nenne und angeborene Talente als die Verdienste Gottes um uns bezeichne, die wir in Demut zu tragen hätten.
»Die Deutschen«, sagte der neugebackene Student, einen Grashalm im Munde, »haben eine doppelgeleisige und uner {127} laubt kombinatorische Art des Denkens, sie wollen immer eins und das andere, sie wollen alles haben. Sie sind imstande, antithetische Denk- und Daseinsprinzipien in großen Persönlichkeiten kühn herauszustellen. Aber dann vermantschen sie sie, gebrauchen die Prägungen der einen im Sinn der andern, bringen alles durcheinander und meinen, sie können Freiheit und Vornehmheit, Idealismus und Naturkindlichkeit unter einen Hut bringen. Das geht aber wahrscheinlich nicht.«
»Sie haben es eben beides in sich«, erwiderte ich, »sonst hätten sie's in jenen Beiden nicht herausstellen können. Ein reiches Volk.«
»Ein konfuses Volk«, beharrte er, »und für die andern verwirrend.«
Übrigens philosophierten wir selten so in diesen ländlichen, unbeschwerten Wochen. Im ganzen war er damals zum Lachen und Unsinnmachen mehr aufgelegt, als zu metaphysischen Gesprächen. Seinen Sinn für das Komische, sein Verlangen danach und seine Neigung zum Lachen, ja zum Tränen-Lachen habe ich schon früher zu bemerken gegeben, und ich hätte ein falsches Bild von ihm vermittelt, wenn der Leser solche Ausgelassenheit nicht mit seinem Charakter zu vereinigen wüßte. Von Humor möchte ich nicht sprechen; für mein Ohr lautet das Wort zu behaglich und mäßig, um auf ihn zu passen. Seine Lachlust schien vielmehr eine Art von Zuflucht und eine leicht orgiastische, mir niemals ganz liebe und geheuere Auflösung der Lebensstrenge, die das Erzeugnis außerordentlicher Gaben ist. Ihr freien Lauf zu lassen, bot jetzt der Rückblick auf die vollendete Schulzeit, auf possenhafte Mitschüler- und Lehrertypen Gelegenheit, wozu Erinnerungen kamen an jüngste Bildungserlebnisse, mittelstädtische Opern-Aufführungen, in deren Empirie es an burlesken Einschlägen, unbeschadet der Weihe des verkörperten Werkes selbst, nicht hatte fehlen können. So mußte ein bauchiger und x-beiniger König Heinrich im {128} »Lohengrin« herhalten und das runde, schwarze Mundloch im fußsackartigen Barte, aus dem er seinen polternden Baß hatte verströmen lassen. Adrian wollte sich ausschütten über ihn, – und das ist nur ein Beispiel, vielleicht ein allzu konkretes, für die Anlässe seiner Lachtrunkenheit. Oft war diese viel gegenstandsloser, die reine Alberei, und ich gestehe, daß ich stets gewisse Schwierigkeiten hatte, ihm dabei zu sekundieren. Ich liebe das Lachen nicht so sehr und war, wenn er sich ihm überließ, immer gezwungen, an eine Geschichte zu denken, die ich nur durch seine eigene Überlieferung kannte. Sie stammte aus des Augustinus De civitate Dei und lautete dahin, daß Cham, der Sohn des Noah und Vater Zoroasters, des Magiers, der einzige Mensch gewesen sei, der bei seiner Geburt gelacht habe, was nur mit Hilfe des Teufels habe geschehen können. Das war bei mir zu einer jeweils auftauchenden Zwangserinnerung geworden, aber es war wohl nur eine Zutat zu anderen Hemmungen, z.B. daß der Blick, den ich innerlich auf ihn richtete, zu ernst und von ängstlicher Spannung nicht frei genug war, als daß ich ihm in der
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