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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Hände jedoch wurden von einem leichten Zittern befallen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte. Sie erstickte förmlich, sie ergriff mit beiden Händen das Glas Wasser und leerte es in einem Zug. Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus, als ihr die Handschuhe einfielen. Sie kehrte noch einmal zurück und nahm beide, wie sie glaubte, mit unsicher tastendem Griff vom Tisch. Dann ging sie hinaus und schloß sorgfältig und leise die Tür, als fürchtete sie, jemand zu stören.
    Als sie wieder auf der Terrasse stand, im heiteren Sonnenlicht, in der reinen Luft, vor sich den lichtdurchfluteten unermeßlichen Horizont, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Land war wie ausgestorben, sicher hatte niemand sie hineingehen oder herauskommen sehen. Noch immer lag da nur der gelbe Hund ausgestreckt, der nicht einmal den Kopf zu heben geruhte. Und mit ihrem kleinen eiligen Schritt und dem leichten Wiegen ihrer mädchenhaften Gestalt ging sie davon. Hundert Schritte weiter fühlte sie, wie eine unwiderstehliche Kraft sie gegen ihren Willen zwang, sich umzudrehen und ein letztes Mal das Haus zu betrachten, das im erlöschenden Glanz dieses schönen Tages so ruhig und so heiter dort auf dem Hang lag. Erst im Zug, als sie ihre Handschuhe anziehen wollte, bemerkte sie, daß einer fehlte. Aber sie war fest davon überzeugt, daß er auf den Bahnsteig gefallen war, als sie in das Abteil stieg. Sie glaubte, ganz ruhig zu sein, aber daß sie nur den einen Handschuh anhatte, war bei ihr ein Zeichen einer ungewöhnlichen Verwirrung.
    Am nächsten Tage nahmen Pascal und Clotilde den DreiUhrZug und fuhren nach Les Tulettes. Charles˜ Mutter, die Sattlersfrau, hatte ihnen den Kleinen gebracht, weil sie ihn zum Onkel bringen wollten, bei dem er die ganze Woche bleiben sollte. Neue Streitigkeiten hatten Unfrieden in der Ehe gestiftet: der Mann weigerte sich ganz entschieden, dieses Kind eines anderen, dieses faule, schwachsinnige Prinzchen, noch länger in seinem Hause zu dulden. Da ihn die Großmutter Rougon mit Kleidung versorgte, war er an jenem Tage in der Tat wiederum ganz in schwarzen, mit einer Goldschnur besetzten Samt gekleidet wie ein junger adliger Herr, ein Page von einst, der am Hofe lebt. Die Fahrt dauerte eine Viertelstunde, und in dem Abteil, das sie für sich allein hatten, vergnügte sich Clotilde damit, Charles die Kappe abzunehmen und seine wunderbaren blonden Haare glattzustreichen, seinen königlichen Haarschmuck, der ihm in Locken über die Schultern herabwallte. Doch sie trug einen Ring, und als sie ihm mit der Hand über den Nacken fuhr, sah sie betroffen, daß ihre Liebkosung eine blutige Spur hinterließ. Wenn man ihn anfaßte, perlte der rote Tau auf seiner Haut: die Erschlaffung der Gewebe hatte sich durch die Degeneration so verschlimmert, daß die geringste Berührung eine Blutung zur Folge hatte. Der Doktor war gleich besorgt und fragte ihn, ob er noch immer so häufig Nasenbluten habe. Doch Charles wußte kaum zu antworten, verneinte zuerst, erinnerte sich dann und sagte, er habe unlängst stark geblutet. Er wirkte in der Tat schwächer denn je; mit zunehmendem Alter wurde er wieder zum kleinen Kind, und sein nie erwachter Verstand verdüsterte sich. Dieser große Junge von fünfzehn Jahren schien noch nicht einmal zehn zu sein, so schön, so mädchenhaft mit dem Teint einer im Schatten erblühten Blume. Voll Mitleid und mit bekümmertem Herzen setzte ihn Clotilde, die ihn auf dem Schoß gehabt hatte, wieder auf die Bank, als sie merkte, daß er aus der frühreifen instinktiven Regung eines lasterhaften kleinen Tieres heraus mit der Hand in den Ausschnitt ihres Mieders zu fassen versuchte.
    In Les Tulettes beschloß Pascal, zunächst das Kind zum Onkel zu bringen. Und sie gingen den ziemlich steilen Weg hinauf. Von weitem lachte das kleine Haus wie am Tage zuvor im hellen Sonnenschein mit seinen rosa Dachziegeln, seinen gelben Wänden, seinen grünen Maulbeerbäumen, die ihre krummen Äste ausstreckten und die Terrasse mit einem dichten Blätterdach überwölbten. Köstlicher Friede umfloß diesen einsamen Winkel, diesen Ruhesitz eines Weisen, wo man nichts als das Summen der Bienen in den großen Malven vernahm.
    »Ach, der Onkel, dieser Halunke!« murmelte Pascal lächelnd. »Ich könnte ihn beneiden!«
    Aber er war überrascht, daß er ihn nicht schon am Rande der Terrasse stehen sah. Und als Charles mit Clotilde losrannte, um nach den Kaninchen zu sehen, ging der Doktor allein weiter hinauf und

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