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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Glaube an das Leben, der ihn trieb, das Wirken des Lebens durch die Wiederherstellung der Lebenskräfte zu unterstützen, noch größer geworden und hatte ihm die höhere Gewißheit gegeben, daß das Leben sich selbst genügte, daß das Leben allein Gesundheit und Kraft spendete. Und mit seinem ruhigen Lächeln besuchte er weiterhin nur jene Kranken, die laut nach ihm verlangten und die sich wunderbar erleichtert fühlten, selbst wenn er ihnen Einspritzungen mit klarem Wasser machte.
    Clotilde erlaubte sich jetzt bisweilen, darüber zu scherzen. Sie blieb im Grunde eine glühende Anhängerin des Mysteriums; wenn er auf diese Weise Wunder bewirke, sagte sie fröhlich, so deshalb, weil er in sich die Macht dazu habe wie ein wirklicher lieber Gott! Pascal wiederum schrieb ihr die Wirkung ihrer gemeinsamen Besuche zu und behauptete, daß er nur noch heilen könne, wenn sie dabei sei, daß sie es sei, die den Odem des Jenseits, die unbekannte und notwendige Kraft, mitbrächte. Daher müßten die reichen Leute, die Bürger, zu denen sie nicht mit hineingehen wollte, weiter jammern, ohne daß irgendeine Erleichterung für sie möglich sei. Sie hatten ihr Vergnügen an diesem zärtlichen Disput, sie zogen jedesmal wie zu neuen Entdeckungen aus und warfen sich bei den Kranken oft Blicke des geheimen Einverständnisses zu. Ach, dieses elende Leiden, das sie empörte, das allein sie noch bekämpfen wollten – wie glücklich waren sie, wenn sie es besiegt glaubten! Sie fühlten sich auf göttliche Weise belohnt, wenn sie sahen, wie der kalte Schweiß trocknete, wie die schreienden Münder still wurden, wie die erstorbenen Gesichter wieder Leben bekamen. Es war offensichtlich ihre Liebe, die ihnen zur Seite ging und die der leidenden Menschheit in diesem Erdenwinkel Linderung brachte.
    »Sterben ist nicht schlimm, das ist ganz in der Ordnung«, sagte Pascal oft. »Aber warum leiden? Das ist abscheulich und dumm!«
    Eines Nachmittags wollte der Doktor mit dem jungen Mädchen einen Kranken in dem Dörfchen Sainte Marthe besuchen; und da sie, um Bonhomme zu schonen, mit der Eisenbahn fuhren, hatten sie auf dem Bahnhof eine Begegnung. Der Zug, auf den sie warteten, kam aus Les Tulettes. SainteMarthe war die erste Station in entgegengesetzter Richtung, nach Marseille zu. Als der Zug eingefahren war und sie eilig eine Tür öffneten, sahen sie die alte Frau Rougon aus dem Abteil steigen, das sie für leer gehalten hatten. Sie sprach nicht mehr mit ihnen, sie stieg trotz ihres hohen Alters leichtfüßig aus und ging dann mit starrem und sehr würdevollem Gesicht davon.
    »Heute ist der 1. Juli«, sagte Clotilde, als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte. »Großmutter kommt aus Les Tulettes zurück von ihrem monatlichen Besuch bei Tante Dide … Hast du den Blick gesehen, den sie mir zugeworfen hat?«
    Pascal war im Grunde glücklich über das Zerwürfnis mit seiner Mutter – es befreite ihn von der ständigen Unruhe, die sie durch ihre Gegenwart verbreitete.
    »Nun ja!« sagte er nur. »Wenn man sich nicht versteht, soll man sich lieber nicht besuchen.«
    Doch das junge Mädchen blieb niedergeschlagen und nachdenklich. Dann sagte sie halblaut:
    »Ich fand sie verändert, ihr Gesicht war blaß … Und hast du bemerkt, daß sie nur einen Handschuh, einen grünen Handschuh, an der rechten Hand trug? Sonst ist sie immer so korrekt … Ich weiß nicht, aber bei ihrem Anblick hat sich mir das Herz umgedreht.«
    Da machte er, nun ebenfalls unsicher, eine unbestimmte Gebärde. Seine Mutter wurde eben alt, wie jedermann. Sie war noch allzuviel in Bewegung und erregte sich noch allzu leidenschaftlich. Er erzählte, daß sie vorhabe, ihr Vermögen der Stadt Plassans zu vermachen, damit man ein Altersheim baue, das den Namen Rougon tragen solle. Beide lächelten wieder, als er sagte:
    »Aber morgen fahren wir ja auch nach Les Tulettes zu unseren Kranken. Und du weißt, ich habe versprochen, Charles zu Onkel Macquart zu bringen.«
    Félicité kam in der Tat an jenem Tage aus Les Tulettes zurück; regelmäßig am Ersten eines jeden Monats fuhr sie dorthin, um nach Tante Dide zu sehen. Seit Jahren beobachtete sie aufmerksam den Gesundheitszustand der Irren; sie war verblüfft, daß sich die Tante noch immer hielt, und wütend, daß sie über das gewöhnliche Maß hinaus beharrlich weiterlebte, ein wahres Wunder an Langlebigkeit. Welche Erleichterung, wenn sie eines schönen Tages diesen lästigen Zeugen der Vergangenheit begraben könnte, dieses

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