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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Gespenst des Wartens und der Sühne, das die Schandtaten der Familie immer wieder neu heraufbeschwor! Und während so viele andere dahingegangen waren, schien die Wahnsinnige, die nur in ihren Augen noch einen Funken Leben bewahrte, vergessen worden zu sein. An jenem Tage hatte Félicité sie wie immer eingetrocknet und aufrecht in ihrem Sessel sitzend vorgefunden, in unverändertem Zustand. Wie die Wärterin sagte, gab es keinen Grund mehr für sie, überhaupt jemals zu sterben. Sie war hundertundfünf Jahre alt.
    Als Félicité aus der Anstalt kam, war sie außer sich. Sie dachte an Onkel Macquart. Noch einer, der ihr lästig war, der mit erbitternder Hartnäckigkeit ewig am Leben blieb! Obgleich er erst vierundachtzig Jahre alt war, nur drei Jahre älter als sie, erschien ihr sein Alter geradezu lächerlich und schon nicht mehr statthaft. Ein Mann, der so unmäßig trank, der seit sechzig Jahren jeden Abend sternhagelbetrunken war! Die Vernünftigen, die Maßvollen gingen dahin; er blühte und gedieh, strahlte vor Gesundheit und Lebenslust. Vorzeiten, als er sich in Les Tulettes niederließ, hatte sie ihm Wein, Liköre und Branntwein geschenkt in der uneingestandenen Hoffnung, die Familie von einem so unsauberen Burschen zu befreien, von dem man nur Unannehmlichkeiten und Schande zu erwarten hatte. Aber sie hatte sehr bald bemerkt, daß der viele Alkohol ihn im Gegenteil munter und rüstig erhielt, wie seine strahlende Miene und sein spöttischer Blick zeigten, und sie hatte ihm fortan keine Geschenke mehr gebracht, da das Gift, auf das sie ihre Hoffnung setzte, ihn nur fett machte. Sie hegte deshalb einen schrecklichen Groll gegen ihn und hätte ihn, wenn sie es gewagt hätte, am liebsten umgebracht, sooft sie ihn wiedersah und er noch fester auf seinen Säuferbeinen stand und ihr höhnisch ins Gesicht lachte, wohl wissend, daß sie auf seinen Tod lauerte, und triumphierend, daß er ihr nicht das Vergnügen bereitete, mit ihm zusammen die alte schmutzige Wäsche, das Blut und den Dreck der beiden Eroberungen von Plassans begraben zu können.
    »Seht Ihr, Félicité«, sagte er oft mit seinem grausam spöttischen Ausdruck, »ich bin hier, um auf die alte Mutter achtzugeben, und wenn wir uns eines Tages beide entschließen zu sterben, dann aus Freundlichkeit Euch gegenüber. Nur um Euch die Mühe zu ersparen, uns jeden Monat so freundlichen Herzens zu besuchen!«
    Für gewöhnlich bereitete sie sich nicht einmal mehr die Enttäuschung, zum Onkel hinunterzugehen; sie wurde in der Anstalt über ihn unterrichtet. Doch da sie dort erfahren hatte, daß er sich in einer außergewöhnlichen Krise der Trunksucht befinde und seit vierzehn Tagen nicht mehr nüchtern gewesen sei, zweifellos so betrunken, daß er nicht mehr ausgehen konnte, packte sie diesmal die Neugier, selber zu sehen, in welchen Zustand er sich wohl gebracht habe. Und als sie zum Bahnhof zurückging, machte sie einen Umweg zum Landhäuschen des Onkels.
    Der Tag war herrlich, ein heißer, strahlender Sommertag. Links und rechts von dem schmalen Weg, den sie einschlagen mußte, betrachtete sie die Felder, die er sich einst hatte schenken lassen, dieses ganze fette Land, der Preis für seine Verschwiegenheit und für seine gute Führung. Im hellen Sonnenschein erschien ihr das Haus mit seinen rosa Dachziegeln und seinen kräftig gelb getünchten Wänden strahlend vor Fröhlichkeit … Unter den uralten Maulbeerbäumen der Terrasse genoß sie die köstliche Kühle und freute sich über die wunderschöne Aussicht. Welch würdiger und klug gewählter Ruhesitz, welch glückliches Eckchen – hier könnte ein alter Mann in Frieden ein langes Leben der Güte und Pflichterfüllung beschließen!
    Doch sie sah den Onkel nicht, sie hörte ihn nicht. Es herrschte tiefe Stille. Nur die Bienen summten um die großen Malven. Und auf der Terrasse befand sich nur ein kleiner gelber Hund, ein »loubet«, wie man sie in der Provence nennt, der lang ausgestreckt auf der bloßen Erde im Schatten lag. Er hatte knurrend den Kopf gehoben und wollte losbellen; als er aber die Besucherin erkannte, legte er sich wieder hin und rührte sich nicht mehr.
    Da überkam sie in dieser Einsamkeit, in dieser freudig strahlenden Sonne ein eigentümlicher leichter Schauer, und sie rief:
    »Macquart! Macquart!«
    Die Tür des Landhäuschens unter den Maulbeerbäumen stand weit offen. Doch sie wagte nicht hineinzugehen, dieses offene, leere Haus beunruhigte sie. Und sie rief aufs

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