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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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königliche Kind mit leeren Adern und leerem Herzen schlummerte.
    Als sie so ihr ganzes Leben wieder vor sich sah, ihr von Leidenschaft und Qual glühendes Leben, das vom Bild des sühnenden Gesetzes beherrscht wurde, stammelte sie dreimal:
    »Der Gendarm! Der Gendarm! Der Gendarm!«
    Und die Urahne fiel in ihren Lehnstuhl zurück; sie glaubten, sie wäre tot, vom Schlag getroffen.
    Doch endlich kam die Wärterin wieder herein, nach Entschuldigungen suchend, ihrer Entlassung gewiß. Nachdem Doktor Pascal ihr geholfen hatte, Tante Dide wieder auf ihr Bett zu legen, stellte er fest, daß die Ahne noch lebte. Sie sollte erst am nächsten Tag sterben, im Alter von hundertundfünf Jahren, drei Monaten und sieben Tagen, an einem Gehirnschlag, ausgelöst durch den letzten Schock, den sie empfangen hatte.
    Pascal sagte zu seiner Mutter:
    »Sie wird keine vierundzwanzig Stunden mehr leben, morgen ist sie tot … Ach! Der Onkel, dann sie und dieses arme Kind, Schlag auf Schlag, wieviel Elend und Trauer!«
    Er unterbrach sich, um leiser hinzuzufügen:
    »Die Familie lichtet sich, die alten Bäume fallen, und die jungen sterben noch vor der Blüte.«
    Félicité mußte an eine neue Anspielung glauben. Sie war aufrichtig erschüttert über den tragischen Tod des kleinen Charles, aber trotzdem empfand sie über ihr Erschauern hinaus ungeheure Erleichterung. Nach einer Woche, wenn man zu weinen aufgehört hatte, würde man sich beruhigt sagen können, daß es all die Greuel von Les Tulettes nicht mehr gab, daß der Ruhm der Familie endlich wachsen und in der Legende erstrahlen konnte!
    Da erinnerte sie sich, daß sie beim Notar nicht auf die unbeabsichtigte Beschuldigung ihres Sohnes geantwortet hatte; und mit dreister Kühnheit sprach sie noch einmal von Macquart.
    »Du siehst ja, daß die Dienstmägde zu nichts taugen. Hier war nun eine, und sie hat nichts verhindert; und der Onkel hätte sich noch so behüten lassen können, er wäre jetzt doch zu Asche verbrannt.«
    Pascal verneigte sich in seiner gewohnten ehrerbietigen Art.
    »Ihr habt recht, Mutter.«
    Clotilde war auf die Knie gesunken. Ihr Glaube, der Glaube einer leidenschaftlichen Katholikin, war in diesem von Irrsinn, Blut und Tod erfüllten Zimmer wieder erwacht. Aus ihren Augen flossen Tränen, ihre Hände hatten sich gefaltet, und sie betete inbrünstig für die teuren Wesen, die nicht mehr waren. Mein Gott! Mochten ihre Leiden nun wirklich zu Ende sein, mochten ihnen ihre Sünden vergeben und sie zu einem Leben ewiger Glückseligkeit wiederauferweckt werden! Und sie tat mit aller Inbrunst Fürbitte, aus Entsetzen vor einer Hölle, in der nach dem elenden Leben das Leiden ewig währen würde.
    Von diesem traurigen Tage an waren Pascal und Clotilde weicher gestimmt, wenn sie eng aneinandergeschmiegt ihre Kranken besuchten. Vielleicht war der Gedanke an seine Ohnmacht angesichts der unabwendbaren Krankheit in Pascal noch stärker geworden. Die einzige Weisheit bestand darin, daß man die Natur ihren Lauf nehmen ließ, die gefährlichen Elemente ausschaltete, sie nur in ihrem auf Gesundheit und Kraft gerichteten beharrlichen Wirken unterstützte. Doch der Verlust der Verwandten, ihr Leiden und ihr Sterben hinterlassen im Herzen einen Groll gegen die Krankheit, ein unwiderstehliches Verlangen, sie zu bekämpfen und zu besiegen. Und nie zuvor hatte der Doktor, wenn er durch eine Injektion einen Schmerzanfall linderte, wenn er sah, wie der schreiende Kranke sich beruhigte und einschlief, eine so große Freude empfunden. Clotilde wiederum betete ihn an, sie war sehr stolz, als wäre ihre Liebe die Linderung, die sie der armen Menschheit als heilige Wegzehrung brachten.
     

Kapitel X
    Eines Morgens ließ sich Martine wie jedes Vierteljahr von Doktor Pascal eine Quittung über fünfzehnhundert Francs geben, um beim Notar Grandguillot »ihre Jahreszinsen«, wie sie es nannte, in Empfang zu nehmen. Er schien verwundert, daß die fällige Zahlung so schnell wieder herangerückt war: niemals waren ihm Geldangelegenheiten derart gleichgültig gewesen, und er überließ es Martine, all diese Dinge zu regeln. Er saß mit Clotilde unter den Platanen, einzig ihrer Freude am Leben hingegeben, köstlich erfrischt durch den ewigen Gesang der Quelle, als das Dienstmädchen verstört und in außergewöhnlicher Erregung zurückkam.
    Sie vermochte nicht gleich zu sprechen, so atemlos war sie.
    »Ach, mein Gott! Ach, mein Gott! Herr Grandguillot ist fort!«
    Pascal begriff zunächst

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