Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
Familien ihre häuslichen Tragödien zu begraben pflegen, war ein Geständnis. Die beiden Frauen fanden keine Worte. Der Doktor, der sonst mit soviel Sorgfalt ärgerliche und nutzlose Auseinandersetzungen vermied, war über seine Frage verzweifelt und suchte bestürzt seinen Satz rückgängig zu machen. Da beendete eine neue Katastrophe diese schreckliche Verlegenheit.
    Félicité hatte sich entschieden, Charles wieder mitzunehmen, da sie Herrn Maurins liebenswürdige Gastfreundschaft nicht mißbrauchen wollte; und da der Notar den Kleinen nach dem Mittagessen für eine Stunde zu Tante Dide in die Anstalt hatte bringen lassen, hatte er sein Dienstmädchen mit dem Auftrag dorthin geschickt, ihn gleich zurückzuholen. In diesem Augenblick nun erschien das Dienstmädchen, das sie im Garten erwarteten, in Schweiß gebadet, außer Atem und ganz verstört; schon von weitem rief sie:
    »Mein Gott! Mein Gott! Kommen Sie schnell! Herr Charles schwimmt im Blut!«
    Sie erschraken furchtbar und machten sich alle drei zur Anstalt auf.
    Tante Dide hatte gerade einen ihrer guten Tage, sie war sehr ruhig, sehr sanft und saß aufrecht in ihrem Lehnstuhl, in dem sie seit zweiundzwanzig Jahren die Stunden, die langen Stunden damit zubrachte, starr ins Leere zu blicken. Sie schien noch magerer geworden zu sein, jeglicher Muskel war geschwunden, ihre Arme, ihre Beine waren nur noch Knochen, vom Pergament der Haut überzogen; und ihre Wärterin, das kräftige blonde Mädchen, mußte sie tragen, sie füttern, über sie verfügen wie über einen Gegenstand, den man von seinem Platz nimmt und wieder zurückstellt. Die Ahne, die Vergessene, saß reglos da, groß, knorrig und erschreckend; nur ihre Augen lebten, die quellwasserhellen Augen in dem vertrockneten winzigen Gesicht. Aber am Morgen war plötzlich eine Tränenflut über ihre Wangen geströmt, dann hatte sie zusammenhanglose Worte zu stammeln begonnen, was zu beweisen schien, daß trotz ihrer senilen Zerrüttung und der unheilbaren Abgestumpftheit durch den Irrsinn das Gehirn noch nicht vollständig verkalkt sein konnte: Erinnerungen blieben aufgespeichert, lichte Augenblicke waren möglich. Jetzt saß sie wieder da mit ausdruckslosem Gesicht, gleichgültig gegen die Wesen und Dinge; sie lachte zuweilen über ein Unglück, über einen Sturz, doch meistens sah und hörte sie nichts, wenn sie so unablässig vor sich hin ins Leere starrte.
    Als Charles zu ihr gebracht wurde, setzte ihn die Wärterin sogleich an den kleinen Tisch, seiner Urahne gegenüber. Sie bewahrte für ihn ein Päckchen mit Bildern auf, Soldaten, Hauptleute, in Purpur und Gold gekleidete Könige, und gab sie ihm jetzt zusammen mit seiner Schere.
    »Da, beschäftigt Euch schön ruhig, seid hübsch artig. Ihr seht, Großmutter ist heute sehr lieb. Ihr müßt auch lieb sein.«
    Das Kind hatte zu der Irren aufgeblickt, und beide sahen einander an. In diesem Augenblick trat ihre außerordentliche Ähnlichkeit deutlich zutage. Sie hatten vor allem genau die gleichen Augen, diese leeren, hellen Augen, die sich ineinander zu verlieren schienen. Auch die Physiognomie, die verbrauchten Züge der Hundertjährigen, ging über drei Generationen hinweg auf dieses zarte Kindergesicht über, das ebenfalls schon wie ausgelöscht wirkte, sehr alt und abgelebt durch den Verfall des Geschlechts. Sie hatten einander nicht zugelächelt, sie betrachteten sich mit dem ernsten Ausdruck des Schwachsinns.
    »Ach ja!« fuhr die Wärterin fort, die die Gewohnheit angenommen hatte, laut mit sich selbst zu sprechen, um sich beim Umgang mit ihrer Irren aufzuheitern. »Ihr könnt euch nicht verleugnen. Das ist ein und dieselbe Art. Ihr seid euch wie aus dem Gesicht geschnitten … Na los doch, lacht ein bißchen, amüsiert euch, da ihr nun einmal gern beieinander seid!«
    Doch die geringste längere Aufmerksamkeit ermüdete Charles, und er senkte als erster den Kopf und schien sich nur für seine Bilder zu interessieren, während Tante Dide, die erstaunlich lange reglos verharren konnte, ihn weiter unablässig anschaute, ohne einmal mit den Lidern zu zucken.
    Einen Augenblick machte sich die Wärterin in dem kleinen durchsonnten Zimmer zu schaffen, das durch seine helle, blaugeblümte Tapete ganz heiter wirkte. Sie machte das Bett, das zum Lüften ausgelegt war, und ordnete Wäsche in den Fächern des Schrankes. Gewöhnlich nutzte sie die Anwesenheit des Kindes, um sich ein wenig Abwechslung zu gönnen. Sonst durfte sie ihre Pflegebefohlene nie

Weitere Kostenlose Bücher