Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
verlassen, deshalb hatte sie schließlich gewagt, Tante Dide der Obhut des Kleinen anzuvertrauen, wenn er da war.
    »Hört gut zu«, sagte sie. »Ich muß einmal hinausgehen, und wenn sie sich rührt, wenn sie mich brauchen sollte, dann läutet Ihr und ruft mich sofort, nicht wahr? Ihr versteht, Ihr seid groß genug, um jemand rufen zu können.«
    Er hatte aufgeblickt und nickte zum Zeichen, daß er verstanden habe und rufen werde. Und als er mit Tante Dide allein war, beschäftigte er sich wieder brav mit seinen Bildern. Das währte eine Viertelstunde in der tiefen Stille der Anstalt, in der man nur verlorene Gefängnisgeräusche vernahm, einen flüchtigen Schritt, ein rasselndes Schlüsselbund und zuweilen laute Schreie, die sofort erstickt wurden. Aber an diesem brennendheißen Tag mußte das Kind wohl müde sein, und der Schlaf übermannte es; bald schien sein lilienweißes Haupt sich unter dem zu schweren Helm des königlichen Haars zu neigen: er ließ es langsam zwischen die Bilder sinken und schlief ein, mit einer Wange auf den goldenen und purpurnen Königen. Seine Wimpern warfen einen Schatten, das Leben pulsierte schwach in den kleinen blauen Adern seiner zarten Haut. Er war von engelhafter Schönheit mit seinem süßen Antlitz, das vom rätselhaften Verfall eines ganzen Geschlechts gezeichnet war. Und Tante Dide betrachtete ihn mit ihrem leeren Blick, in dem weder Schmerz noch Freude lag, mit dem über die Dinge hinweg schauenden Blick der Ewigkeit.
    Nach einigen Minuten jedoch schien in ihren hellen Augen ein Interesse zu erwachen. Es war etwas geschehen, ein roter Tropfen bildete sich am linken Nasenloch des Kindes. Dieser Tropfen fiel herab, dann folgte ihm ein neuer. Es war Blut, blutiger Tau, der da hervorperlte, diesmal ohne Verletzung, ohne Quetschung, der infolge der durch die Degeneration hervorgerufenen Gewebserschlaffung ganz von selbst herausrann und dahinfloß. Die Tropfen wurden zu einem dünnen Rinnsal, das auf das Gold der Bilder herabfloß. Eine kleine Blutlache überschwemmte sie, bahnte sich einen Weg zu einer Kante des Tisches; dort bildeten sich wiederum Tropfen, schwere dicke Tropfen, die einer nach dem anderen auf dem Fliesenboden des Zimmers aufschlugen. Und Charles schlief immer weiter mit seinem göttlich ruhigen Engelsgesicht, ohne sich bewußt zu sein, daß das Leben aus ihm entwich; und die Irre fuhr fort, ihn anzuschauen, mit dem Ausdruck wachsenden Interesses, doch ohne Schrecken, vielmehr belustigt, und ihre Augen waren davon so in Anspruch genommen wie sonst vom Hin und Her der dicken Fliegen, die sie oft stundenlang mit dem Blick verfolgte.
    So gingen noch Minuten dahin, das kleine rote Rinnsal war breiter geworden, die Tropfen folgten jetzt rascher aufeinander und fielen mit einem leisen monotonen und beharrlichen Klatschen herab. Und Charles bewegte sich einen Augenblick, schlug die Augen auf und bemerkte, daß er ganz voll Blut war. Doch er erschrak nicht, er war an diese blutige Quelle gewöhnt, die bei der geringsten Verletzung aus ihm hervorbrach. Er gab einen verdrossenen Klagelaut von sich. Der Instinkt jedoch mußte ihn wohl warnen, denn er wurde ängstlich, jammerte lauter und stieß verwirrt hervor:
    »Mama! Mama!«
    Er war aber wohl schon zu schwach, denn eine unüberwindliche Benommenheit befiel ihn wieder, und er ließ seinen Kopf auf den Tisch zurücksinken. Seine Augen schlossen sich von neuem, er schien wieder einzuschlafen, und als setzte er im Traum seine Klage fort, kam das immer schwächer und verlorener klingende leise Wimmern aus seinem Mund:
    »Mama! Mama!«
    Die Bilder waren von Blut überschwemmt, der schwarze Samt der goldbesetzten Jacke und der Hose war mit langen blutigen Streifen besudelt; und das kleine rote Rinnsal floß hartnäckig weiter aus dem linken Nasenloch, unaufhaltsam, lief durch die purpurne Lache auf dem Tisch, tropfte auf den Boden, wo sich schließlich ein kleiner See bildete. Ein lauter Schrei der Irren, ein Schreckensruf hätte genügt. Aber sie schrie nicht, sie rief nicht, sie saß reglos da mit den starren Augen eines uralten Menschen, der zusieht, wie sich das Schicksal erfüllt, als wäre sie dort vertrocknet und gefesselt; ihre hundert Jahre hatten ihr die Glieder und die Zunge gelähmt, ihr Hirn war durch den Irrsinn verkalkt, und sie war unfähig, etwas zu wollen oder zu tun. Indessen begann der Anblick des kleinen roten Bachs eine Erschütterung in ihr auszulösen. Ein Zucken lief über ihr erstorbenes Antlitz, und

Weitere Kostenlose Bücher