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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Wärme stieg in ihre Wangen. Schließlich erweckte ein letzter Klagelaut des Kindes sie wieder ganz zum Leben.
    »Mama! Mama!«
    Jetzt vollzog sich in Tante Dide ein sichtbarer, schrecklicher Kampf. Sie hob ihre skelettartigen Hände an die Schläfen, als fühlte sie ihren Kopf zerspringen. Ihr Mund hatte sich weit geöffnet, doch kein Laut kam daraus hervor: der fürchterliche Aufruhr, der in ihr tobte, lähmte ihr die Zunge. Sie bemühte sich aufzustehen, zu laufen, doch sie hatte keine Muskeln mehr, sie blieb an ihren Stuhl gefesselt. Ihr ganzer armseliger Körper zitterte von der übermenschlichen Anstrengung, die sie unternahm, um Hilfe herbeizurufen, ohne aus ihrem Gefangensein in Greisenhaftigkeit und Irrsinn ausbrechen zu können. Mit verstörtem Gesicht und wiedererwachter Erinnerung mußte sie alles mit ansehen.
    Und es war ein langsames, sehr sanftes Sterben, das noch lange Minuten andauerte. Charles, der jetzt still war und anscheinend wieder eingeschlummert, verlor nach und nach alles Blut aus seinen Adern, die sich mit leisem Geräusch unaufhaltsam leerten. Seine lilienhafte Weiße nahm zu, wurde zur Todesblässe. Die Lippen entfärbten sich zu einem fahlen Rosa; dann wurden sie weiß. Und dem Erlöschen nahe, öffnete er noch einmal die großen Augen und heftete sie starr auf die Urahne, die den letzten Schimmer darin verfolgen konnte. Das ganze wächserne Gesicht war schon tot, als die Augen noch lebten. Sie waren noch immer durchsichtig und klar. Plötzlich wurden sie leer und erloschen. Dies war das Ende, das Sterben der Augen; und Charles war ohne eine Erschütterung gestorben, ausgeschöpft wie eine Quelle, deren Wasser versiegt ist. Das Leben pulsierte nicht mehr in den Adern seiner zarten Haut, es gab nichts mehr als den Schatten der Wimpern auf seinem weißen Antlitz. Doch er war noch immer göttlich schön, wie er da mit dem Kopf im Blut lag, das königliche Blondhaar um sich gebreitet, gleich einem jener blutlosen kleinen Kronprinzen, die das abscheuliche Erbe ihres Geschlechts nicht zu tragen vermögen und schon in ihrem fünfzehnten Lebensjahr vor Alter und Schwachsinn entschlummern.
    Das Kind hatte seinen letzten schwachen Atem ausgehaucht, als der Doktor eintrat, gefolgt von Félicité und Clotilde. Und sowie er die Menge Blut gesehen hatte, von der der Fliesenboden überschwemmt war, rief er:
    »O Gott! Das habe ich schon immer befürchtet! Der arme Kleine! Niemand war da, es ist zu Ende.«
    Doch alle drei blieben schreckerfüllt stehen angesichts des außergewöhnlichen Schauspiels, das sich ihnen nun bot. Tante Dide, die gewachsen schien, war es beinahe gelungen, sich zu erheben. Und in ihren Augen, die starr auf den sehr weißen, sehr sanften kleinen Toten gerichtet waren, auf das ausgeströmte rote Blut, die Blutlache, die schon zu gerinnen anfing, entzündete sich nach zweiundzwanzigjährigem langem Schlummer ein Gedanke. Diese letzte Schädigung ihres Geistes durch den Irrsinn, diese unheilbare Umnachtung des Verstandes, war zweifellos nicht vollständig genug, als daß eine dort aufgespeicherte Erinnerung an ein weit zurückliegendes Ereignis unter dem schrecklichen Schlag, der sie getroffen, nicht plötzlich hätte wach werden können. Und die Vergessene lebte wieder auf, trat aus ihrem Nichts hervor, aufrecht und verwüstet gleich einem Gespenst des Entsetzens und des Schmerzes.
    Einen Augenblick saß sie keuchend da. Dann überlief sie ein Zittern, und sie vermochte nur immer ein Wort zu stammeln:
    »Der Gendarm! Der Gendarm!«
    Sowohl Pascal als auch Félicité und Clotilde hatten begriffen. Sie sahen sich unwillkürlich an und schauderten. Es war die ganze wilde Geschichte der alten Mutter, ihrer aller Mutter, die da heraufbeschworen wurde, die rasende Leidenschaft ihrer Jugend, das lange Leiden ihres reifen Alters. Schon zwei seelische Schocks hatten sie furchtbar erschüttert: der erste mitten im glutvollen Leben, als ein Gendarm ihren Geliebten, den Schmuggler Macquart, wie einen Hund niederschoß; der zweite viele Jahre später, als abermals ein Gendarm ihrem Enkel Silvère, dem Aufständischen, dem Opfer des Hasses und der blutigen Kämpfe der Familie, mit einem Pistolenschuß den Kopf zerschmetterte. Immer wieder hatte Blut sie bespritzt. Und ein dritter seelischer Schock richtete sie zugrunde, Blut bespritzte sie, das geschwächte Blut ihres Geschlechts, das sie soeben hatte so lange fließen sehen und das sich dort auf dem Fußboden ausbreitete, während das weiße

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