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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sie auf den Knien und umarmte sie, noch immer bebend vor Erregung. Dann flüsterte er ihr leise ins Ohr:
    »Und du hast alles verkauft, wirklich alles?«
    Ohne zu sprechen, löste sie sich ein wenig aus seinen Armen und tastete mit anmutiger Gebärde mit den Fingerspitzen ihren Hals ab. Errötend lächelte sie. Dann zog sie die dünne Kette hervor, an der milchweißen Sternen gleich die sieben Perlen schimmerten; und es schien, als ließe sie ein wenig von ihrer intimen Nacktheit sehen, als entströmte der ganze lebendige Duft ihres Körpers diesem einzigen Kleinod, das sie auf ihrer Haut trug, im verborgensten Geheimnis ihrer Person. Sogleich schob sie es wieder zurück und ließ es verschwinden.
    Er errötete ebenfalls, und heiße Freude durchflutete ihn.
    Er umarmte sie leidenschaftlich.
    »Ach, wie lieb du bist, und wie ich dich liebe!«
    Doch seit diesem Abend lag die Erinnerung an den verkauften Schmuck wie eine Last auf seinem Herzen, und er konnte das Geld in seinem Sekretär nicht ohne Kummer ansehen. Die nahende Armut, die unausweichliche Armut bedrückte ihn; und mehr noch quälte ihn die Angst, der Gedanke an sein Alter, an seine sechzig Jahre, die ihn unbrauchbar machten, unfähig, einer Frau ein glückliches Leben zu bereiten. Mitten aus seinem trügerischen Traum von ewiger Liebe erwachte er zur besorgniserregenden Wirklichkeit. Unvermittelt war er ins Elend geraten, er fühlte sich sehr alt, und das ließ ihn erstarren, erfüllte ihn mit Gewissensbissen, mit einem verzweifelten Zorn gegen sich selbst, als hätte er nun in seinem Leben eine schlechte Tat begangen.
    Da gelangte er zu schrecklicher Klarheit. Als er eines Morgens allein war, erhielt er einen Brief mit dem Poststempel von Plassans, dessen Umschlag er genau betrachtete, verwundert, daß er die Schrift nicht kannte. Dieser Brief trug keine Unterschrift. Und gleich bei den ersten Zeilen machte er eine zornige Bewegung, als wollte er ihn zerreißen; er setzte sich jedoch zitternd hin, er mußte ihn zu Ende lesen. Übrigens wahrte der Stil vollendeten Anstand, die langen Sätze flossen maßvoll und schonend dahin wie Diplomatensätze, deren einzige Absicht es ist, zu überzeugen. Man bewies ihm mit großem Aufwand von guten Gründen, daß der Skandal auf der Souleiade schon allzu lange gewährt habe. Wenn auch die Leidenschaft bis zu einem gewissen Grade die Verfehlung erkläre, müsse man dennoch einen Mann in seinem Alter und in seiner Stellung künftig absolut verachten, wenn er weiterhin darauf beharren sollte, seine junge Verwandte vollends ins Unglück zu stürzen, nachdem er sie verführt hatte. Jedermann wisse, welche Macht er über sie gewonnen habe, und man nehme an, daß sie ihren Stolz daransetze, sich für ihn zu opfern; aber sei es nicht an ihm zu begreifen, daß sie einen Greis nicht lieben könne, daß sie nur Mitleid und Dankbarkeit empfinde und daß es höchste Zeit sei, sie aus diesem Liebesverhältnis mit einem alten Mann zu befreien, aus dem sie, weder Gattin noch Mutter, entehrt und entwürdigt hervorgehen werde? Da er ihr offenbar nicht einmal mehr ein kleines Vermögen hinterlassen könne, hoffe man, er werde als Ehrenmann handeln und die Kraft finden, sich von ihr zu trennen, um ihr Glück zu sichern, sofern noch Zeit dazu sei. Und der Brief endete mit dem Gedanken, daß ein schlechter Lebenswandel schließlich immer bestraft würde.
    Schon bei den ersten Sätzen begriff Pascal, daß dieser anonyme Brief von seiner Mutter kam. Die alte Frau Rougon mußte ihn diktiert haben, er hörte geradezu ihren Tonfall heraus. Aber nachdem er die Lektüre in aufbrausendem Zorn begonnen hatte, beendete er sie bleich und zitternd, von jenem Schauer erfaßt, der ihn von nun an nicht mehr verließ. Der Brief hatte recht, er klärte ihn über seine innere Unruhe auf, ließ ihn erkennen, daß er Gewissensbisse hatte, weil er alt und arm war und weil er Clotilde bei sich behielt. Er erhob sich, stellte sich vor einen Spiegel und blieb lange davor stehen, die Augen allmählich von Tränen verdunkelt, verzweifelt über seine Runzeln und über seinen weißen Bart. Die tödliche Kälte, die ihn erstarren ließ, war der Gedanke, daß die Trennung jetzt notwendig, schicksalhaft, unvermeidlich wurde. Er wies ihn von sich, er konnte sich nicht vorstellen, daß er sich jemals damit abfinden würde; aber dennoch würde dieser Gedanke wiederkommen. Er, Pascal, würde nicht eine Minute mehr leben, ohne davon gequält, ohne von diesem Kampf zwischen

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