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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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gekümmert hat? Meine einzige Pflicht ist da, wo mein Herz ist.«
    »Aber du hast es versprochen. Ich habe es für dich versprochen und gesagt, du bist vernünftig … Du wirst mich doch nicht Lügen strafen.«
    »Vernünftig! Du bist nicht vernünftig! Es ist doch nicht vernünftig, sich zu trennen, wenn wir hinterher beide vor Kummer sterben müßten.«
    Und sie brach das Gespräch mit einer großen Gebärde ab, sie schob jede weitere Erörterung heftig beiseite.
    »Wozu streiten wir überhaupt? Es ist doch ganz einfach, ein Wort genügt. Willst du mich fortschicken?«
    Er stieß einen Schrei aus.
    »Ich dich fortschicken, großer Gott!«
    »Also, wenn du mich nicht fortschickst, dann bleibe ich.«
    Sie lachte jetzt, sie lief zu ihrem Pult und schrieb mit Rotstift drei Worte quer über den Brief ihres Bruders: »Ich lehne ab.« Dann rief sie Martine und wollte durchaus, daß sie den Brief in einem Umschlag sofort zurückbrächte. Auch Pascal lachte, so überglücklich, daß er sie gewähren ließ. Die Freude, Clotilde zu behalten, raubte ihm schier die Vernunft.
    Doch wie schlug ihm schon in der Nacht, als Clotilde eingeschlafen war, das Gewissen! Er war feige gewesen! Wieder einmal hatte er seinem Glücksverlangen nachgegeben, dem Wonnegefühl, sie jeden Abend wiederzufinden, wie sie sich an seine Seite schmiegte, so zart und so sanft in ihrem langen Nachtgewand, und ihn mit dem frischen Duft der Jugend umhüllte. Nach ihr würde er nie wieder lieben. Und sein ganzes Ich schrie auf in dem Schmerz, sich vom Weib und von der Liebe losreißen zu müssen. Todesschweiß überlief ihn, wenn er sich vorstellte, daß sie fort wäre, wenn er sich allein sah, ohne Clotilde, ohne all das Liebevolle und Zarte, das sie der Luft mitteilte, die er einsog, ohne ihren Atem, ihren heiteren Sinn, ihre tapfere Redlichkeit, ohne ihre teure Gegenwart, ihre physische und psychische Nähe, die jetzt für sein Leben so notwendig war wie das Licht des Tages. Sie würde ihn verlassen, und er mußte die Kraft finden zu sterben. Schlafend atmete sie friedlich wie ein Kind, und während er sie an seinem Herzen hielt, ohne sie zu wecken, verachtete er sich ob seines geringen Mutes, beurteilte er die Lage mit schrecklicher Klarheit. Es war zu Ende: ein geachtetes Leben, ein Vermögen erwarteten Clotilde in Paris; er durfte seinen greisenhaften Egoismus nicht so weit treiben, daß er sie noch länger unter dem Hohngeschrei der Leute in seiner Armut bei sich behielt. Und da er sie so anbetungswürdig in seinen Armen fühlte, so vertrauensvoll, als Untertanin, die sich ihrem alten König hingegeben hatte, tat er halb ohnmächtig den Schwur, stark zu sein, das Opfer dieses Kindes nicht anzunehmen, Clotilde gegen ihren Willen dem Glück, dem Leben zurückzugeben.
    Nunmehr begann der Kampf der Entsagung. Einige Tage vergingen, und er hatte ihr so gut begreiflich gemacht, wie hart ihre Reaktion auf den Brief von Maxime gewesen sei, daß sie ausführlich an ihre Großmutter schrieb und ihre Ablehnung begründete. Aber sie wollte noch immer nicht die Souleiade verlassen. Da er jetzt sehr geizig war, um das Geld von den Schmuckstücken sowenig wie möglich anzugreifen, überbot sie ihn noch und aß ihr trockenes Brot mit fröhlichem Lachen. Eines Morgens überraschte er sie, als sie Martine gute Ratschläge gab, wie sie noch sparsamer sein könne. Zehnmal am Tag sah sie ihm fest in die Augen, fiel ihm um den Hals und bedeckte ihn mit Küssen, um den furchtbaren Gedanken der Trennung zu bekämpfen, den sie ihm unentwegt vom Gesicht ablas. Schließlich hatte sie ein anderes Argument. Eines Abends bekam er nach dem Essen starkes Herzklopfen und wäre beinahe ohnmächtig geworden. Das verwunderte ihn, denn er hatte nie an Herzbeschwerden gelitten und glaubte einfach, daß seine nervösen Störungen wieder aufträten. Seit er so große Freuden erlebte, fühlte er sich weniger kräftig und hatte das sonderbare Empfinden, als wäre etwas Zartes und Tiefinnerliches in ihm zerbrochen. Clotilde machte sich gleich Sorgen und war eifrig um ihn bemüht. Jetzt würde er doch wohl nicht mehr davon sprechen, daß sie abreisen solle? Wenn man jemand liebhabe, der krank ist, dann müsse man bei ihm bleiben und ihn pflegen.
    So stritten sie unablässig. Es war ein ständiger Ansturm der Liebe und der Selbstverleugnung, einzig aus dem Wunsch heraus, den anderen glücklich zu machen. Doch wenn auch die Rührung über ihr gütiges und liebevolles Verhalten die Notwendigkeit

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