Doktor Pascal - 20
sich ihre Küsse und ihre Tränen mischten.
Als Pascal wieder allein war, fand er sich erbärmlich. Er durfte dieses Kind, das er anbetete, nicht länger unglücklich machen. Und am Abend desselben Tages trat ein Ereignis ein, das ihm endlich die Lösung brachte, die er trotz der schrecklichen Angst, sie zu finden, so lange gesucht hatte. Nach dem Abendessen nahm ihn Martine in großer Heimlichkeit beiseite.
»Ich habe Madame Félicité getroffen, und sie hat mir aufgetragen, Ihnen diesen Brief zu übergeben, Herr Doktor; ich soll Ihnen sagen, sie hätte ihn selber gebracht, wenn nicht ihr guter Ruf sie hinderte hierherzukommen … Madame Félicité bittet Sie, ihr den Brief von Herrn Maxime zurückzuschicken und sie die Antwort des Fräuleins wissen zu lassen.«
Es war in der Tat ein Brief von Maxime. Félicité war glücklich darüber und benutzte ihn als wirksames Mittel, nachdem sie vergebens gewartet hatte, daß die Armut ihr den Sohn in die Hände liefern würde. Da weder Pascal noch Clotilde sie um Beistand und Hilfe bitten kamen, änderte sie ihren Plan ein weiteres Mal und nahm ihren alten Gedanken, die beiden zu trennen, wieder auf. Und diesmal schien ihr die Gelegenheit einmalig günstig. Maximes Brief war dringlich, er richtete ihn an seine Großmutter, damit diese bei seiner Schwester ein Wort für ihn einlegte. Die Ataxie war zum Ausbruch gekommen, schon jetzt konnte er nur noch am Arm eines Dieners gehen. Vor allem aber bedauerte er, einen Fehler begangen zu haben; ein hübsches brünettes Mädchen hatte sich in sein Haus eingeschlichen, er hatte ihr nicht widerstehen können und den Rest seiner Kraft in ihren Armen gelassen. Und das Schlimmste war, er hatte jetzt die Gewißheit, daß diese Männerfresserin ein heimliches Geschenk seines Vaters war. Saccard hatte sie ihm liebenswürdigerweise geschickt, um ihn schneller zu beerben. Deshalb hatte sich Maxime, nachdem er sie hinausgeworfen hatte, in seinem Hause eingeschlossen, wollte selbst seinen Vater nicht empfangen und zitterte davor, ihn eines Morgens durch das Fenster einsteigen zu sehen. Die Einsamkeit machte ihm angst, und er verlangte verzweifelt nach seiner Schwester, er wollte sie gleichsam als Schutzwehr gegen diese abscheulichen Anschläge bei sich haben, endlich einmal eine Frau, die sanft und aufrichtig war und die ihn pflegen würde. Der Brief ließ durchblicken, Clotilde würde es nicht zu bereuen haben, wenn sie sich gut mit ihm vertrüge. Zum Schluß erinnerte Maxime das junge Mädchen an das Versprechen, das sie ihm bei seiner Reise nach Plassans gegeben hatte, nämlich zu ihm zu kommen, wenn er sie eines Tages wirklich brauchen sollte.
Pascal überlief es eiskalt. Er las die vier Seiten noch einmal. Das war die Trennung, die sich da anbot, annehmbar für ihn, vorteilhaft für Clotilde, so einfach und natürlich, daß man sogleich einwilligen mußte. Und obschon er seine ganze Vernunft zu Hilfe rief, fühlte er sich doch so wenig sicher, so wenig entschlossen, daß er sich einen Augenblick mit zitternden Beinen hinsetzen mußte. Doch er wollte tapfer sein, er zwang sich zur Ruhe und rief seine Gefährtin.
»Schau her, lies diesen Brief, den Großmutter mir schickt.«
Aufmerksam las Clotilde den Brief bis zum Schluß, ohne ein Wort, ohne eine Gebärde. Dann sagte sie sehr einfach:
»Nun ja, du wirst antworten, nicht wahr? Ich lehne ab.«
Er mußte sich beherrschen, um nicht in einen Freudenschrei auszubrechen. Doch schon hörte er sich, als hätte ein anderer das Wort ergriffen, vernünftig sagen:
»Du lehnst ab? Das ist nicht möglich … Wir müssen überlegen, laß uns bis morgen mit der Antwort warten; wir wollen miteinander reden, ja?«
Doch sie war erstaunt und ereiferte sich.
»Uns trennen? Und warum? Du würdest wirklich einwilligen …? Das ist doch Wahnsinn! Wir lieben uns, und wir sollen uns trennen, ich soll nach Paris gehen, wo niemand mich liebt … Hast du dir nicht überlegt, wie unsinnig das wäre?«
Er vermied es, auf dieses Thema einzugehen, und sprach von gegebenen Versprechen und von Pflicht.
»Erinnere dich, mein Liebes, wie bewegt du warst, als ich dir sagte, daß Maxime gefährdet sei. Heute nun hat ihn die Krankheit zu Boden geworfen, er ist gelähmt, ohne einen Menschen, und ruft dich zu sich! Du darfst ihn in dieser Lage nicht im Stich lassen. Du hast da eine Pflicht zu erfüllen.«
»Eine Pflicht!« rief sie aus. »Habe ich etwa Pflichten gegenüber einem Bruder, der sich niemals um mich
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