Doktor Pascal - 20
der Trennung nur noch grausamer erscheinen ließ, so begriff er doch, daß diese Notwendigkeit mit jedem Tage unumgänglicher wurde. Sein Entschluß war gefaßt. Er zitterte und zauderte nur, weil er nicht wußte, wie er Clotilde überzeugen sollte. Er sah die schreckliche, tränenreiche Szene voraus. Was würde er tun? Was würde er ihr sagen? Wie würden sie beide es fertigbringen, sich ein letztes Mal zu umarmen und sich nie mehr zu sehen? Und die Tage vergingen, ihm fiel nichts ein; jeden Abend nannte er sich von neuem einen Feigling, wenn sie ihn, nachdem das Licht gelöscht war, wieder in ihre jugendlichen Arme schloß, glücklich und triumphierend, ihn so zu besiegen.
Oft scherzte sie mit einem Anflug zärtlicher Schelmerei:
»Meister, du bist zu gut, du wirst mich bei dir behalten.«
Doch das ärgerte ihn; er regte sich auf und sagte finster:
»Nein, nein! Sprich nicht von meiner Güte! Wenn ich wirklich gut wäre, dann wärest du schon lange in Paris, wohlhabend und geachtet, und hättest ein schönes, ruhiges Leben vor dir, anstatt hier, wo du beschimpft wirst und hoffnungslos in Armut lebst, die traurige Gefährtin eines alten Verrückten zu sein, wie ich einer bin … Nein, ich bin nur feige und ehrlos!«
Stürmisch brachte sie ihn zum Schweigen. Doch es war wirklich seine Güte, die da blutete, diese unendliche Güte, die er seiner Liebe zum Leben verdankte, die er in der ständigen Sorge um das Glück aller über Dinge und Wesen verströmte. Gut sein, hieß das nicht, sie glücklich sehen, sie glücklich machen wollen um den Preis seines eigenen Glücks? Er mußte diese Güte aufbieten, und er fühlte deutlich, daß er fähig sein würde zu so entscheidender, heldenhafter Güte. Doch wie die Elenden, die sich zum Selbstmord entschlossen haben, wartete er auf die Gelegenheit, auf den Augenblick und das Mittel zur Ausführung seines Willens.
Eines Morgens war er um sieben Uhr aufgestanden, und als sie in das große Arbeitszimmer trat, war sie ganz erstaunt, ihn an seinem Tisch sitzen zu sehen. Seit vielen Wochen hatte er kein Buch mehr aufgeschlagen und keine Feder angerührt.
»Sieh an! Du arbeitest?«
Er blickte nicht auf, sondern sagte nur mit abwesendem Ausdruck: »Ja, ich muß den Stammbaum endlich weiterführen.«
Ein paar Minuten blieb sie hinter ihm stehen und sah ihm beim Schreiben zu. Er vervollständigte die Notizen über Tante Dide, Onkel Macquart und den kleinen Charles, trug ihren Tod ein und setzte die Daten hinzu. Als er sich dann noch immer nicht rührte und sich den Anschein gab, als wüßte er nicht, daß sie dort stand und darauf wartete, daß er sie wie sonst am Morgen küßte und mit ihr lachte, ging sie ans Fenster und kam untätig wieder zurück.
»Es wird also im Ernst gearbeitet?«
»Gewiß, du siehst doch, daß ich schon vorigen Monat die Todesfälle hätte verzeichnen müssen. Und ich habe da noch eine Menge Arbeit, die auf mich wartet.«
Sie sah ihn fest an und suchte mit eindringlich fragendem Ausdruck seine Augen zu ergründen.
»Gut! Arbeiten wir … Wenn ich Untersuchungen für dich machen kann oder wenn du Notizen abzuschreiben hast, dann gib sie mir.«
Und von diesem Tage an tat er so, als stürzte er sich wieder ganz in die Arbeit. Es war im übrigen eine seiner Theorien, daß die absolute Ruhe nichts tauge, daß man sie niemals verordnen solle, nicht einmal dem Überlasteten. Ein Mensch lebt nur durch die äußere Umgebung, in der er sich befindet; und die Eindrücke, die er dadurch empfängt, werden in ihm in Bewegung, in Gedanken und Handlungen umgesetzt; bei absoluter Ruhe, wenn man weiterhin Eindrücke empfängt, ohne sie verarbeitet und umgesetzt von sich zu geben, tritt daher eine Stauung ein, ein Mißbehagen, ein unvermeidlicher Gleichgewichtsverlust. Er hatte immer die Erfahrung gemacht, daß die Arbeit der beste Regulator seines Lebens war. Selbst wenn er sich des Morgens unwohl fühlte, setzte er sich an die Arbeit und fand dabei seine Sicherheit wieder. Niemals ging es ihm besser, als wenn er seine im voraus methodisch festgelegte Aufgabe erfüllte, soundso viele Seiten in stets der gleichen Zeit; und er verglich diese Aufgabe mit einer Balancierstange, die ihn inmitten der täglichen Plagen, der Schwächen und Verfehlungen aufrecht hielt. Deshalb gab er seiner Faulheit, dem Müßiggang, in dem er seit Wochen lebte, die Schuld an seinem Herzklopfen, das ihn zuweilen schier zu ersticken drohte. Wenn er gesund werden wollte, dann brauchte er nur
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