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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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seine großen Arbeiten wiederaufzunehmen.
    Diese Theorien entwickelte und erklärte Pascal Clotilde stundenlang mit fieberhaftem, übertriebenem Eifer. Er schien wieder von jener Liebe zur Wissenschaft gepackt, die bis zu seiner plötzlich aufwallenden Leidenschaft für Clotilde sein Leben ganz allein verzehrt hatte. Er sagte ihr immer wieder, er könne sein Werk nicht unvollendet lassen, er habe noch soviel zu tun, wenn er ein dauerhaftes Denkmal errichten wolle! Die Sorge um die Akten schien ihn wieder zu erfassen, von neuem öffnete er den großen Schrank wohl zwanzigmal am Tage, nahm sie aus dem oberen Fach heraus und vervollständigte sie. Seine Auffassung von der Vererbung wandelte sich bereits, er hätte alles noch einmal durchsehen, alles umarbeiten mögen, aus der sozialen und biologischen Geschichte seiner Familie in großen Zügen eine umfassende Synthese, eine Zusammenfassung der Menschheitsgeschichte ableiten wollen. Daneben kam er dann auf seine Behandlung durch Injektionen zurück, die er noch erweitern wollte: er hatte eine verworrene Vorstellung von einem neuen Heilverfahren, eine noch unklare, ferne Theorie, die aus seiner Überzeugung und aus seiner persönlichen Erfahrung in bezug auf den positiven Einfluß der Arbeit erwachsen war.
    Jetzt klagte er jedesmal, wenn er sich an seinen Tisch setzte.
    »Mir bleiben nicht mehr genügend Jahre, das Leben ist zu kurz!«
    Man hätte meinen können, er dürfe nicht eine Stunde mehr verlieren. Und eines Morgens blickte er plötzlich auf und sagte zu seiner Gefährtin, die neben ihm ein Manuskript abschrieb:
    »Hör gut zu, Clotilde … Wenn ich sterben sollte …«
    Bestürzt erhob sie Einspruch.
    »Wie kommst du auf so eine Idee!«
    »Wenn ich sterben sollte, hör gut zu … dann verschließt du sofort die Türen. Die Akten behältst du für dich, für dich allein. Und wenn du meine anderen Manuskripte zusammengesucht hast, übergibst du sie Ramond … Hörst du, das ist mein letzter Wille!«
    Doch sie schnitt ihm das Wort ab und weigerte sich, ihn anzuhören.
    »Nein, nein! Du sprichst dummes Zeug!«
    »Clotilde, schwöre mir, daß du die Akten behalten und meine anderen Papiere Ramond übergeben wirst.«
    Ernst geworden, gab sie ihm schließlich das Versprechen, mit Tränen in den Augen. Selber sehr bewegt, nahm er sie in seine Arme und überschüttete sie mit Zärtlichkeiten, als hätte sein Herz sich plötzlich wieder aufgetan. Dann beruhigte er sich, sprach von seinen Befürchtungen. Seitdem er sich zu arbeiten bemühte, schienen sie ihn wieder zu quälen; er bewachte ängstlich den Schrank, er behauptete, er habe Martine umherschleichen sehen. Konnte man nicht die blinde Ergebenheit dieses Mädchens erschüttern, sie zu einer schlechten Handlung verleiten, indem man ihr einredete, daß sie ihren Herrn dadurch rettete? Er hatte so sehr unter dem Argwohn gelitten! Beim drohenden Nahen der Einsamkeit verfiel er von neuem seiner peinigenden Angst, dieser Qual des Wissenschaftlers, der in seinem Hause, in seinem eigen Fleisch, in seinem geistigen Schaffen von den Seinen bedroht und verfolgt wird.
    Eines Abends, als er mit Clotilde erneut auf dieses Thema zu sprechen kam, entfuhr es ihm:
    »Du verstehst, wenn du nicht mehr da bist …«
    Sie wurde ganz weiß, und als sie sah, daß er innehielt, sagte sie erschauernd:
    »O Meister, Meister! Denkst du denn immer noch an diese abscheuliche Geschichte? Ich sehe ganz deutlich in deinen Augen, daß du mir etwas verbirgst, daß du einen Gedanken hast, der mir nicht mehr gehört … Aber wenn ich fortgehe und du stirbst, wer wird dann dasein, dein Werk zu verteidigen?«
    Er glaubte, daß sie sich langsam an den Gedanken der Abreise gewöhnte, und fand die Kraft, fröhlich zu antworten:
    »Denkst du denn, ich würde sterben, ohne dich wiedergesehen zu haben? Ich werde dir schreiben, zum Teufel! Und du wirst dann zurückkommen und mir die Augen schließen.«
    Sie war auf einen Stuhl gesunken und schluchzte.
    »Mein Gott, ist es denn möglich? Wir, die wir uns nicht für eine Minute trennen, die wir eins in den Armen des anderen leben, sollen morgen nicht mehr zusammen sein? Und wenn das Kind gekommen wäre …«
    »Ach, du sprichst mein Urteil!« unterbrach er sie heftig. »Wenn das Kind gekommen wäre, wärst du niemals fortgegangen … Siehst du denn nicht, daß ich zu alt bin und daß ich mich verachte! Mit mir bliebest du kinderlos und müßtest den Schmerz erfahren, nicht ganz Frau, nicht Mutter zu sein! So geh

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